Marc Cohn – kann sich noch jemand erinnern? Und Blind Boys of Alabama – kennt die in Deutschland überhaupt jemand? Beides sind wohl eher ein US-amerikanisches Ding. Umso mehr sollte das gemeinsame Album Work to do ein Muss für Americana-Fans sein.
„Walking in Memphis“ also… Marc Cohn läuft und läuft und läuft durch Memphis. Tennessee. Die Geschichte dürfte so langsam bekannt sein: Der Singer / Songwriter besucht die Heimstatt von Elvis. Presley. Vorbei an Sehenswürdigkeiten, gespickt mit Andeutungen an die Musikgeschichte – und untermalt von einem so leicht perlenden wie markanten Klavierthema. Der Song ist aber schon immer ein bisschen mehr als ein musikalischer Reisebericht. Er beschreibt auch eine geistige Erweckung, einen Befreiungsschlag von den eigenen Dämonen. Und damit ist er recht nahe am Spiritual und am Gospel. „They’ve got Catfish on the table, they’ve got Gospel in the air„, singt Cohn an einer Stelle. An einer anderen erzählt er von der Gospelsängerin Muriel, und die fragt ihn: „Tell me: Are you a Christian child?“ – Cohns Antwort: „Ma’am, I am tonight!“ Mal den Glaubenskram außen vor: Musikalisch ist das unheimlich stark.
„Walking in Memphis“ ist beinahe 30 Jahre alt, und man mag meinen, dass zu dem Song alles gesagt ist. Erst recht nach dem unsäglichen Cover von Cher. „Walking in Memphis“ wurde Cohns „Signature Song“ und blieb leider sein einziger richtiger Hit. Vielleicht braucht es aber gerade die große zeitliche Distanz und die gereifte Abgeklärtheit, um dem Song wirklich noch etwas Neues abzugewinnen. Das tut Cohn nun mit Hilfe der Blind Boys of Alabama, also der legendären Gospeltruppe aus besagtem Bundesstaat. Walking in Memphis fängt zunächst mal an wie gewohnt, Cohn läuft und läuft, das Klavier perlt und perlt. Irgendwann ab Minute 2, also sobald der Katzenwels auf den Tisch kommt und der Gospel durch die Luft wabert, mischen sich die Blind Boys in the Song ein und dehnen die Passage aufs Maximum. Natürlich im gospeligen Satzgesang. Der Song bekommt da einen neuen Spin, klingt vertraut, aber doch ein bisschen anders.
Vom Interview zum Song zum Album
Das Album Work to do funktioniert über längere Passagen nach genau diesem Schema. Cohn interpretiert seine bekannten Songs am Klavier, die Blind Boys steigen mit ihrem vierstimmigen Gesang ein und drehen den Gospel-Regler ein gutes Stück nach oben. Heraus kommt was Vertrautes, aber doch Neues. Ich sehe ja Neuinterpretationen von Künstlern durchaus kritisch, aber das hier lasse ich gerne mal durchgehen. Denn diese „Erweiterung“ von Cohns Songs ist durchaus sinnvoll und auch naheliegend. Und dass es sich bei dem Album eigentlich um eine Live-Aufnahme handelt, unterstützt den authentischen und lebendigen Sound der einzelnen Stücke. Also insgesamt eine geglückte Paarung.
Wie kam es eigentlich zu der Zusammenarbeit? Marc Cohn schrieb vor drei Jahren einige Songs für das Album This is where I live von Soul-Legende William Bell, das einen Grammy erhielt. Bell steht unter demselben Management wie die Blind Boys – und die waren zu dem Zeitpunkt bereits seit knapp 80 Jahren mit ihren markanten Sonnenbrillen in Sachen Gospel unterwegs. Also dachte sich das Management: Das muss gefeiert werden. Mit einem Album namens Almost Home. Das besondere Konzept dabei: Die Blind Boys erzählen von ihrem Leben, diese Interviews werden an Songwriter weitergereicht, die sich davon inspirieren lassen und ein paar Lieder schreiben, die wiederum die Blind Boys interpretieren. Also erhielt auch Cohn den Auftrag, drei Songs beizusteuern. Einer davon wurde für den Grammy nominiert.
Aber lange Rede, kurzer Sinn: Die Zusammenarbeit von Cohn mit den blinden Jungs bzw. gereiften Herren, funktionierte wohl so gut, dass man gemeinsam auf Tour ging und zunächst eine EP plante, dann ein ganzes Live-Album aufnahm.
Jeder darf mal zur Höchstform auflaufen
Allerdings: So bekannt „Walking in Memphis“ auch ist, das eigentliche Highlight des Albums dürfte die rund zehnminütige Neuinterpretation von „Silver Thunderbird“ sein. Der Song befand sich auch bereits auf Marc Cohns Debütalbum und handelt von seinem Vater, der sich ein neues Auto kauft. Ab der Hälfte haut das Klavier eine kleine, aber markante Ecke in die Melodie, ab da wird der Song zum kleinen Gospel-Fest, bei dem die Blind Boys ihre persönlichen Stärken ausspielen können. Sie krallen sich an der souligen Textphrase „Me I want to go down“ fest, und jeder blinde Junge darf einmal zeigen, was er kann. Joey Williams und Ben Moore gehen es zunächst pragmatisch an, Eric „Rickie“ McKinnie eher gelassen, bevor Jimmy Carter die tiefe Röhre auffährt. Paul Beasley bringt dann mit seinem Falsettgesang noch reichlich Soul – und Humor – mit rein.
Peter Gabriel – das war meine erste und für lange Zeit einzige Verbindung zu den Blind Boys of Alabama. Der setzte die Gesangsgruppe für ein wiederkehrendes Motiv in seinem Song „Sky Blue“ vom 2002er Album Up ein und ging auch mit ihnen auf Tournee. Tja, so genial der Song ist, darauf sollte man die Formation nicht reduzieren. Die Blind Boys gründeten sich im Jahr 1939 und bestanden aus fünf neunjährigen Jungs. Die machten sich über die Jahrzehnte einen Namen und sangen mit zahlreichen Größen aus Rock, Pop und Americana. Um nur einige zu nennen: Tom Petty, Solomon Burke, Ben Harper, Bonnie Raitt, Charlie Musselwhite, Willy Nelson, Prince, Lou Reed, Aaron Nelson, Mavis Staples… ach, es sind einfach zu viele. Sechs Grammys haben die Blind Boys eingefahren – erstaunlicherweise alle in den 2000er Jahren. Die fünf Gründungsmitglieder leben heute leider nicht mehr.
Mischung aus Live und Studio
So geht es quer durch Cohns vor allem frühes Schaffen. „Ghost Train“ oder „Baby King“ entführen genauso in den Süden der Vereinigten Staaten wie die kleine Hymne „Listening to Levon“, die dem legendären Schlagzeuger und Sänger Levon Helm (R.I.P.) von The Band gewidmet ist. Ein kleiner Leckerbissen ist die Interpretation des klassischen Kirchenliedes „Amazing Grace“ durch die Blind Boys zur Melodie des ebenfalls klassischen Folksongs „House of the Rising Sun“. Und mit „One Safe Place“ gibt’s auch einen versöhnlichen Abschluss. Ein richtiges Live-Album ist Work to do übrigens nicht. Da es zunächst eine EP werden sollte, hatte Cohn zwei neue Songs geschrieben, die sich als Studioaufnahmen auf der Scheibe wiederfinden, nämlich „Talk back Mic“ und der Titelsong „Work to do“.
Und direkt zum Einstieg – quasi als perfekte Einstimmung – gibt’s das Spiritual „Walk in Jerusalem“ der Blind Boys. Überflüssig zu sagen, dass sich die drei Stücke nahtlos in das übrige Set einfügen.
Eigentlich nur eine logische Paarung
Work to do erfüllt damit gleich mehrere Zwecke: Zum einen finden Cohn-Fans – von denen es in Deutschland wohl leider nicht zu viele gibt – neues Futter vom Meister. Schließlich ist der ja leider kein Fließbandschreiber, sondern lässt sich mit jedem Album eine gefühlte Ewigkeit Zeit. Zum anderen finden ein paar Künstler auf dem Album zueinander, die eigentlich eine logische Paarung darstellen. Und letztlich bietet sich dem interessierten Zuhörer hier schlicht ein gelungenes Album im Gospel-Stil mit hübschen Melodien und einer kompetenten Darbietung. Die gute Nachricht: Marc Cohn wurde inzwischen zum Ehren-Mitglied der Blind Boys ernannt. Der Wermutstropfen: Blind Boys-Gründer Clarence Fountain verstarb im vergangenen Jahr im Alter von 88 Jahren und ist auf dem Album leider nicht mehr zu hören.
In Kürze: Marc Cohn und die Blind Boys of Alabama – wenn man die beiden Fraktionen zusammen auf dem neuen Album Work to do hört, fragt man sich, warum die nicht schon viel eher zusammengefunden haben. Cohn jedenfalls fährt mit der gesanglichen Verstärkung ein perfektes Album im Gospel-Stil auf. Da verschmerzt man nur allzu gerne, dass es sich größtenteils um Neuinterpretation seiner bekannten Stücke wie „Walking in Memphis“ handelt.
Bewertung: 8 / 10
Der Song „Walking in Memphis“ zeichnet sich nicht nur durch sein Klavierthema aus, sondern auch durch seine vielgelobten Lyrics. Inzwischen rankt sich sogar eine „Eisberg-Theorie“ um den Song. Soll heißen: Der Text handelt nur zu einem kleinen Teil vom Offensichtlichen. Die wahre Stärke liegt zu einem Großteil unter der Oberfläche verborgen. So dass jeder etwas anderes hineininterpretieren kann. Nun ja, Fakt ist zunächst mal, dass Marc Cohn Mitte der 1980er wirklich eine Reise nach Memphis unternommen hatte, als er mit sich als Songschreiber und mit seiner musikalischen Karriere haderte. Die Lyrics sind gespickt mit Andeutungen an die Wahrzeichen und Berühmtheiten der Stadt, darunter die „Blue Suede Shoes“ von Elvis (bzw. Carl Perkins), die Beale Street, die als Geburtsort des Blues gilt, oder W.C. Handy, eine Blues-Legende, die unter anderem den „St. Louis Blues“ aufgenommen hatte.
In einem benachbarten Ort lernte Cohn tatsächlich eine Gospelsängerin namens Muriel Davis Wilkins kennen. Er sang mit ihr – und arbeitete in einem langen Gespräch auch gleich ein persönliches Trauma auf, weil seine Eltern im Abstand von mehreren Jahren starben, als Cohn noch im Kindesalter war. Er kehrte zurück, der Rest ist Musik-Geschichte. Die Textpassage: „Tell me: Are you a Christian child?“ – „Ma’am, I am tonight!“, ist übrigens ironisch zu verstehen, denn Cohn ist jüdischen Glaubens. Muriel Davis Wilking starb im Oktober 1990, fünf Monate, bevor „Walking in Memphis“ veröffentlicht wurde.