Na, wenn sich der mal nicht verhebt. Dachte ich mir und meinte den Comic Blade Runner 2019. Immerhin ist Blade Runner Kult. Und Blade Runner 2049 mehr als geglückt. Reißt hier die Serie?
Es ist dunkel. Eigentlich ist es immer dunkel, ewige Nacht. Und ewiger Regen. Alles erleuchtet von den riesigen Leuchtreklamen, die von den Wolkenkratzern auf die Straßen herabstrahlen. Und von den Scheinwerfern der Spinner, die zwischen den Häuserfassaden hindurchfliegen. Keine neuen Häuserfassaden, sondern alte, brüchige Bauten, bei denen einfach die nächsten Stockwerke Schicht um Schicht oben aufgesetzt worden sind. So sieht das Los Angeles des Jahres 2019 aus. Und so trostlos und lebensfeindlich und bedrohlich dessen Kulisse auch wirken mag, so faszinierend und wohlig vertraut ist sie doch. Oben werben die Neonlichter für Atari und PanAm, unten wuseln vornehmlich Asiaten durch die Stadt, wie es scheint. Und irgendwo in einem japanischen Yatai sitzt jemand im langen Mantel und wird bei seinem Imbiss gestört …
Blade Runner ist vielleicht etwas, das man einen Nacht-Film nennen kann. Natürlich ist Blade Runner auch Film Noir und beherrscht dessen Bildsprache, das Spiel mit Licht und Schatten. Nacht-Film meint aber: Er entfaltet seine volle Sogwirkung vor allem dann, wenn sich der Tag längst dem Ende zugeneigt hat, wenn draußen alles dunkel und halbwegs still ist und wenn die synthetischen Klänge des Herrn Vangelis durch den Raum schneiden. So vielschichtig die Geschichte rund um Rick Deckard und seine Jagd auf Roy Batty ist und so spannend die Frage, was denn letztlich einen Menschen ausmacht, die Faszination rührt vor allem von dem, was man sieht und hört in diesem Film. Und auch von dem, was man nicht sieht. Stichwort „C-Beams, glitzernd im Dunkeln nahe dem Tannhäuser Tor“. Dialoge, die ein ganzes Universum vor dem geistigen Auge des Zuschauers entstehen lassen.
Schön wie gemalt
Nun also Blade Runner 2019 … Keine Fortsetzung wie Blade Runner 2049, sondern schlicht eine weitere Geschichte aus dem Los Angeles des Rick Deckard. Nicht als Film, sondern in Comicform. Schafft es solch ein gezeichnetes Heftchen, oder vielmehr: schaffen es die drei bisher auf Deutsch erschienen Bände auch nur ansatzweise, eine ähnliche Wirkung zu erzielen wie das übergroße filmische Vorbild? Nähern wir uns doch mal ganz unvoreingenommen, denke ich mir. Nehme den ersten Band mit dem Titel Los Angeles erst am fortgeschrittenen Abend zur Hand, wenn es naturgemäß schon dunkel ist. Lege den Blade Runner-Score von Vangelis auf und fange an zu blättern. Die ersten Panels zeigen ein dunkles Los Angeles, es regnet, Scheinwerfer gleißen durch die Stadt, Asiaten radeln umher, ein Replikant wird unsanft in den Ruhestand versetzt, und siehe da: Es funktioniert!
Blade Runner 2019 handelt von Detective Aahna Ashina, kurz: Ash. Sie ist eine der ersten Blade Runner und angeblich auch die Beste ihrer Zunft. Und kaum, dass sie einen Replikanten zur Strecke gebracht hat, da erhält sie Besuch von ihrer Vorgesetzten Wojciech und den Auftrag, den Industriellen Alexander Selwyn aufzusuchen. Dessen Frau Isobel und deren Tochter Cleo sind nämlich spurlos verschwunden. Und da Blade Runner immer weniger zu tun haben, weil es immer weniger Replikanten gibt, darf Ash nun den Spürhund geben. Also wühlt sie sich durch den Dreck und Abschaum des einstigen Zukunfts-Los Angeles und findet schnell heraus: Natürlich steckt hinter der ganzen Geschichte deutlich mehr als nur ein vermisstes oder entführtes Mutter-Tochter-Gespann. Natürlich sind manche Charaktere nicht die, die sie zu sein scheinen. Und natürlich haben auch Replikanten mit der ganzen Sache zu tun.
Warum ich skeptisch war, was den Comic Blade Runner 2019 als Fortsetzung des bekannten Films angeht? Das liegt vor allem an der ursprünglichen literarischen Fortsetzung des Stoffs von Kevin Wayne (K. W.) Jeter. Jeter hat als Science-Fiction-Autor einige Verdienste, zum Beispiel als Autor der eigentlich ersten Cyberpunk-Roman Dr. Adder im Jahr 1972, also 12 Jahre vor William Gibsons Neuromancer. Er war mit Philip K. Dick befreundet und tauchte in dessen Buch Valis auf. Das auf der Haben-Seite, aber trotzdem fand ich seine Blade Runner-Fortsetzungen 2 bis 4 aus den Jahren 1995 bis 2000 eher lahm. Weil: lahm geschrieben, auch wenn sich die Bücher weiter mit Rick Deckards Existenz beschäftigen. Das Blade Runner Adventure-Spiel von 1997 wiederum fand ich sehr gelungen, auch weil es grafisch passte und die Story spannend war. Inzwischen umfasst das Franchise noch ein paar Werke mehr, aber das würde hier den Rahmen sprengen.
Die Zukunft ist weiblich
Die Autoren des Comics sind Michael Green und Mike Johnson. Green ist normalerweise Drehbuchschreiber, unter anderem hat er Blade Runner 2049 geschrieben. Und Johnson ist Comicveteran, zum Beispiel für Star Trek. Beide wissen ganz gut, in welchem Umfeld sie sich hier bewegen: Film Noir. Oder Future Noir, wenn man so will. Jemand aus der feineren Gesellschaft, der einfach so verschwindet, nämlich eine reiche Industriellen-Gattin mit einem dunklen Geheimnis, in das auch noch ein paar andere Leute verwickelt sind, das ist bester Stoff für eine Detektiv-Geschichte, die in die Abgründe der Stadt führt. Green und Johnson erzählen das alles drehbuchgerecht knackig herunter ohne große Sperenzchen und Schnörkel. Dafür aber mit einigen Twists, die man vielleicht hat kommen sehen, und einigen Twists, die man garantiert nicht hat kommen sehen.
Und sie nehmen das Szenario und seine Charaktere ernst genug. Das fängt schon bei der Hauptfigur an: Ash verfügt über eine funktionierende Backstory, ist hammerhart, wie es sich für einen Blade Runner gehört, zumindest zu Beginn. Dann, im Verlauf der Geschichte, macht sie eine glaubhafte Entwicklung durch, sogar eine, die deutlich besser zu einer Frau passt als zu einem Mann. Wir wissen ja: Die Zukunft ist weiblich, doch der Geschlechterwechsel vom Blade Runner Deckard hin zur Blade Runnerin Ash ist geglückt und hat nicht den Dünkel einer simplen Gender-Agenda. Vertraute Namen wiederum wie Tyrell oder Bryant klingen nur kurz am Rande an, was auch logisch ist, wenn es um Replikanten und Blade Runner geht. Viel wichtiger aber: Sie treten nicht in den Mittelpunkt der Handlung, sondern lassen Raum für neues Personal.
Blade Runner and beyond
Das Faszinierende – oder zumindest das Spannende – an Blade Runner 2019 ist: Es ist eine Erweiterung der bekannten Blade Runner-Welt. Das betrifft zum einen die Handlungsorte: Das düstere und verregnete Los Angeles der alten Zukunft mag fester Bestandteil des Blade Runner-Kultes sein. Puristen könnten argumentieren: Ein Blade Runner, der nicht in diesem Los Angeles spielt, ist kein Blade Runner. Doch auch die mögen sich an das vieldiskutierte Ende des Kino-Cuts erinnern, wenn Deckard und seine Rachael durch eine wunderschön saftig-grüne Landschaft fahren (am Rande: Shining, Kubrick und so, dürfte bekannt sein, oder?). Die „Außenwelt“ von Blade Runner 2019 ist zwar nicht ganz so idyllisch, aber Überraschung: Es gibt sie. Und so führt die Geschichte zunächst nach Mexiko und schließlich sogar Off-World, also auf eine Bergbau-Kolonie im All, wo man sieht, welches miese Dasein Bergbau-Replikanten fristen müssen.
Blade Runner liefert ein paar herrliche Throwaway-Lines. Also Dialoge, die von etwas erzählen, das man im Film nicht sieht, das aber mächtig die Fantasie anheizt. Roy Battys Erinnerungen zum Beispiel an sein Leben jenseits der Erde, also Off-World. In Blade Runner 2019 sieht man genau das: Zum Beispiel eine Bergbau-Kolonie im All. Bemerkenswert daran: Diese Kolonie erinnert frappierend an eben jene im Film Outland, dem Film von Peter Hyams mit Sean Connery. Da lässt sich ein schöner Bogen spannen, denn Outland machte kein Geheimnis daraus, optisch und atmosphärisch dem großen Vorbild Alien nachzueifern. Und Alien wurde bekanntlich von Ridley Scott gedreht, direkt vor Blade Runner.
Nun ja … Das Spiel mit der Meta-Ebene hat auch schon in Blade Runner 2049 funktioniert: Dort sieht man eine riesige Schrotthalde mit Müllschiffen, die ihren Dreck abladen. Das erinnerte wiederum frappierend an den Film Soldier von Paul W. S. Anderson, der im Blade Runner-Universum spielen sollte. Das hatte jedenfalls David Webb Peoples behauptet, der das Drehbuch von Soldier geschrieben und am Drehbuch von Blade Runner mitgearbeitet hatte. Nicht umsonst lag irgendwo im Hintergrund von Soldier ein Spinner im Schrott. Und apropos Soldier: Am Ende von Blade Runner 2019 kommt die gute Ash mit einer Soldaten-Replikantin zusammen. Man sieht sogar Ausschnitte aus deren Schlachten. Da kommen Erinnerungen auf …
Zurück ins zukünftige Jahr 2000
Green und Johnson erzählen die Geschichte übrigens in der Blade Runner-Kontinuität, was ebenfalls erfreulich ist. Bedeutet: Ashs kleiner Noir-Auftrag zieht sich dank ein, zwei überraschender Wendungen über mehrere Jahre bis ins Jahr 2026. Damit tangiert die Geschichte auch Ereignisse, die durch Blade Runner 2049 und dessen begleitende Kurzfilme bekannt sind. Allen voran die Einführung der Nexus 8-Replikanten durch die Tyrell Corporation, die darauffolgende Replikantenjagd durch weite Teile der menschlichen Bevölkerung und schließlich der Gegenangriff der Replikanten, der zum Blackout von 2022 und damit zur Zerstörung von Tyrell führt. Wohlgemerkt: Diese Backstory ist wichtig für die Kontinuität des Blade Runner-Szenarios, aber sie bleibt genau dort, nämlich im Hintergrund, und sorgt dafür, dass diese retro-futuristische Welt plausibel forterzählt wird.
Apropos retro: Die Autoren entwickeln die Geschichte nicht nur nach vorne in die Zukunft. Sondern sie gewähren auch einen Rückblick in die Vergangenheit. Genauer: ins Jahr 2000 nach Blade Runner-Zeitrechnung – ein reizvolles Spiel mit der Erzählzeit und einer fiktiven Vergangenheit, die 1982 zu Zeiten des ersten Blade Runner-Films noch möglich erschien, aber in der echten Welt so nie stattgefunden hat.
Kleine Verweise aufs Original
Kann der Zeichenstil da mithalten? Schließlich lebt Blade Runner zu einem Großteil von seiner Optik. Aber die Zeichnungen sind durchaus geglückt. Verantwortlich dafür ist der Spanier Andrés Guinaldo, der unter anderem schon Joe R. Lansdales Drive-In-Romane als Comics adaptierte. Und es ist erfreulich, dass er sich nicht dazu hinreißen lässt, futuristisch-fotorealistische Zeichnungen abzuliefern, sondern hübsch comicmäßig unterwegs ist. Das mag vielleicht manche enttäuschen, die sich von Blade Runner auch im Comic eine überwältigende Optik erwarten. Aber wenn sie genauer hinschauen, dann erkennen sie vielleicht einige Anklänge an Moebius wieder und an die Designs von Syd Mead. Beide Herren waren schließlich nicht ganz unwichtig für den ersten Film.
Retro-Fans wiederum werden sowieso erfreut feststellen, dass der Comic voller kleiner Anspielungen ist. Da wäre das Design: Im Jahr 2019 gibt es noch immer sehr vertraut-versiffte Wandverkleidungen im 80er Jahre-Stil. Und Monitore haben dort auch immer noch so einen komischen Kasten hinter dem Bildschirm, sprich: Man schaut in die Röhre und nicht auf einen LCD-Schirm. Das ist übrigens ein kleines Detail, das auch Blade Runner 2049 mit in die Zukunft gerettet hatte. Was es noch gibt im Comic? Augen. Wir erinnern uns: Der Film Blade Runner begann mit einem allsehenden Auge, und das Motiv des Sehens tauchte immer wieder auf in der Handlung. Tja, wie fängt Blade Runner 2019 nun an? Ohne zu viel zu verraten: mit Augen. Gewissermaßen.
Ist sie’s oder ist sie’s nicht?
Eine Grundfrage von Blade war, ist und wird sein: Ist Rick Deckard ein Mensch oder ein Replikant? Das müssen wir an dieser Stelle nicht beantworten (denn wir wissen ja: Replikant), aber wenn man genau hinschaut, dann könnte die Frage genauso für sein weibliches Pendant gelten. Warum? Blade Runner 2019 ist durchsetzt mit Flashbacks in Ashs Kindheit. Die geben der Figur zweifellos Background, zumal einen tragischen Background, was sie interessant macht. Aber warum wird dieser so prominent hervorgehoben? Ash muss als Kind mit einem körperlichen Handicap leben und wird von ihrer Mutter verlassen. Das erklärt ganz gut ihre Motivation, sich später in der Handlung um die junge Cleo zu kümmern. Aber es hat ansonsten wenig Bezug zur Handlung. Und die Frage ist: Ist dieser Background mit der Waisen-Geschichte echt oder ist er vielleicht nur eine implantierte Erinnerung?
Ash wird später einem Voight Kampff-Test durch die Blade Runnerin Hythe unterzogen, nachdem sie mit falscher Identität untergetaucht ist. Hythe stellt den Test bereits nach zwei Fragen ein und sagt, die Maschine zeige, dass sie keine Replikantin, wohl aber eine Lügnerin. Da Hythe die wahre Identität aber bereits vorher wusste, zeigte die Maschine vielleicht doch einen Replikanten an, und Hythe hatte es nur falsch interpretiert? Hythe selbst ist übrigens ein Blade Runner, zumindest bezeichnet sie sich so, aber später soll sich herausstellen, dass sie auch ein Replikant ist und beliebig replizierbar. Wieso sollte das mit Ash anders sein?
Zumal am Ende eine Hythe auftaucht, die deutlich eigenwilliger agiert als ihre eigenen Klone und sich als fehlerhaft bezeichnet. Und wenn eine Figur „fehlerhaft“ ist in dieser Geschichte, dann Ash. Apropos: Ist der Name „Ash“ vielleicht ein kleines Augenzwinkern in Richtung Alien, dem Blade Runner-Vorgänger im Schaffen von Ridley Scott? Dort gab es auch einen Ash, und der war bekanntlich kein Mensch.
Alles gut, Ende auch gut?
Richtig gute Geschichten haben oftmals ein Manko: Das Ende kann nicht mit dem Rest mithalten und enttäuscht etwas. Das ist hier nicht anders. Man merkt dem dritten Band von Blade Runner 2019, der Ashs Geschichte zu einem Ende bringen soll, an, dass er die losen Enden zusammenführen soll. Das geht schon ein bisschen hopplahopp – ein bisschen Geplänkel, ein bisschen Action, eine Replikanten-Befreiungs-Organisation wird auch noch schnell eingeführt, und das Finale geht in Zeitraffer über die Bühne. Das ist alles unterhaltsam, auch nicht komplett unbefriedigend, aber leider auch nicht so elegant, wie es hätte sein dürfen. Beinahe schon ein bisschen hingehuscht, so fühlt es sich an.
Macht aber auch nichts. Denn während wir den dritten und vermeintlich letzten Band spät in der Nacht geschlossen und beiseitegelegt haben, sind wir inzwischen beim Vangelis-Album „BR25“ angelangt, der musikalischen Fortsetzung des Original-Scores. Und wir wissen inzwischen: Auch von diesem Comic wird es eine Fortsetzung geben: Blade Runner 2029, wieder mit Ash in der Hauptrolle, und in den USA schon längst erschienen. Da kann man sich doch auf den zweiten Zyklus und ein paar weitere dunkle, verregnete Nächte freuen.
Fazit: Eine würdige Fortsetzung oder vielmehr Erweiterung des Kultfilms Blade Runner ist keine Selbstverständlichkeit. Erst recht, wenn sie zur gleichen Zeit spielt wie das übergroße Vorbild. Blade Runner 2019 schafft das aber mit Leichtigkeit, vor allem weil sich die Autoren an gewisse Regeln des Szenarios halten, aber trotzdem eine neue Geschichte erzählen. Insofern auch eine schöne Ergänzung innerhalb des Franchises neben dem Filmsequel Blade Runner 2049. Auf den zweiten Comiczyklus darf man gespannt sein.
Bewertung: 8 / 10
Kleiner Bonus: Wer hatte beim Titel dieses Beitrags (zur Erinnerung: „It’s raining again„) noch alles einen Ohrwurm? Um denjenigen oder diejenige zu erlösen …