Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen. Nein, ehrlich. Der Mord im Orient Express war bereits 1974 recht gut in Szene gesetzt worden. Warum dreht Kenneth Branagh davon eine Neuverfilmung?
Ärkühl Poaroh, die nächste. Der berühmte französische, Pardon, belgische Detektiv ist ja nun oftmals eine lächerliche Figur. Pomadig, großbärtig, unbeweglich, gerne auch übergewichtig. Doch eines ist er selten: von nennenswerten menschlichen Regungen gezeichnet. Das wird sich vielleicht auch Kenneth Branagh gesagt haben, als er an die Neuverfilmung von Agatha Christies Mord im Orient Express ging. Denn er tritt da in ziemlich große Fußstapfen, nämlich in die von Regielegende Sidney Lumet. Der hatte den berühmten Mordfall im Zug bereits 1974 mit zahlreichen damaligen Weltstars auf die Leinwand gebracht. Und er hatte damit eigentlich alles Wesentliche in der Sache gesagt. Ein Remake mutet da in etwa so sinnvoll an wie… naja, wie ein Fahrplan ohne Eisenbahn.
Ein kleines, aber feines Defizit hatte der Klassiker dann aber doch: das Ende. Ohne jetzt spoilern zu wollen – Poirot löste dort wie gewohnt den Fall, sah sich danach aber einem erheblichen moralischen Dilemma gegenüber. Ein Dilemma, das nicht so ganz befriedigend behandelt wurde. Der Lumet-Film spielte zügig darüber hinweg und ließ dann auch schon den Abspann folgen. Jetzt kann man sich vorstellen, wie Kenneth Branagh nach genau solch einem Schwachpunkt gesucht hatte, um seinem 2017er Remake eine Daseins-Berechtigung zu geben. Und tatsächlich haut er genau in diese Kerbe: Sein Poirot erhält – wenn auch in homöopathischen Dosen – etwas tiefere menschliche Züge. Der sonst von sich selbst überzeugte Detektiv darf auch mal mit sich hadern und bekommt sogar noch eine kleine Romanze angedichtet.
Finales Dilemma endlich nachvollziehbar
Viel wichtiger aber: Branagh knüpft die Figur Poirot enger an den vorliegenden Fall, macht ihn beinahe schon zum Mitschuldigen. Damit liefert er einen emotionalen Unterbau für die finale Entscheidung des Detektivs und macht diese nachvollziehbar.
Neue Aspekte dank neuer Technik?
Das ist dann aber leider auch der einzige wirkliche Verdienst der Neuverfilmung. Zugegeben: Mord im Orient Express ist räumlich so stark begrenzt und sein Personal so klar umrissen, dass es schwer fällt, der Geschichte weitere neue Aspekte abzuringen. Allerdings muss man erst mal die Klasse des alten Films erreichen, bevor man etwas besser machen kann. Und das gelingt dem neuen Film leider nicht. Sidney Lumet galt damals als sogenannter Straightshooter, und diese direkte Art des Filmens kam dem klassischen Whodunit sehr entgegen. Da gab es wenig Mätzchen, und die Schauspieler durften in den Verhörszenen beweisen, warum sie als Weltstars galten – allen voran Ingrid Bergman mit ihrem fünfminütigen Monolog. Branagh dagegen hechelt etwas zu schnell durch den Fall und hakt in aller Eile die Befragungen der Verdächtigen ab. Das Ergebnis: Die Figuren werden verwechselbar, die Mördersuche gerät oberflächlich.
Stattdessen lässt der Film technisch die Muskeln spielen: Der Orient Express fährt durch künstliche, aber dennoch wunderschöne Computer-Panoramen. Die Kamera ist permanent in Bewegung, als wolle sie die Grenzen der Waggons ausloten. Mal filmt sie aus extremer Untersicht, mal direkt von oben, dann rast sie neben dem Zug her und verfolgt das Geschehen von außen. Und am Anfang wie am Ende läuft Poirot in hübschen kurzen Plansequenzen durch die Abteile, was den Orient Express beinahe zum zweiten Hauptdarsteller erhebt. Hinzu kommt die Musik von Patrick Doyle, welche die Zugfahrt auch akustisch passend einfängt. Letztlich bleibt festzuhalten: Kenneth Branaghs Film ist nicht schlecht, nur ist er auch nicht so gut wie sein mehr als 40 Jahre alter Vorgänger.
In Kürze: Kenneth Branaghs Neuverfilmung von Mord im Orient Express ist zwar dynamischer gefilmt, inhaltlich aber deutlich oberflächlicher als die 1974er Referenz von Sidney Lumet. Eine Sache macht er aber besser: das Ende. Hercule Poirots großes moralisches Dilemma wird in der aktuellen Version besser aufgelöst.
Bewertung: 7 / 10