Andrew Niccol ist ein Fachmann für pessimistische Zukunftsbilder. Mit Anon widmet er sich nun dem Thema Big Data. Einige Gedanken, warum das ganz großartig ist – und trotzdem nicht funktioniert.
Clive Owen geht eine Straße entlang. Das ist als Filmbeginn so banal wie spektakulär. Für einige Minuten folgen wir Owen auf seinem Weg zur Arbeit – und dieser kleine Spaziergang enthüllt bereits komplett, worum es in Anon geht. Denn wir sehen ein gutes Stück seines Weges durch seine Augen. Und mehr noch: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern überlagert durch eine Vielzahl von Informationen, die parallel ins Bild gespielt werden: über die Gebäude im Sichtfeld, vor allem aber über alle Menschen, angereichert durch Marken-Logos und personalisierte Werbespots, sobald ein Schaufenster in der Nähe ist. Echte Zeichen und Schilder gibt es nicht mehr. Wir befinden uns in einer Realität, die zur erweiterten Realität, also bis in die letzte Konsequenz zur Augmented Reality geworden ist.
Regisseur und Autor Andrew Niccol hat sich zu einem Fachmann für pessimistische Zukunftsbilder entwickelt. Gattaca, Truman Show, S1m0ne, In Time – wie kein anderer Filmemacher hat er ein Händchen dafür, aktuelle technologische und auch soziale Entwicklungen weiterzudenken und über die Risiken der schönen neuen Welt zu menetekeln. Mit Anon nimmt er sich nun des Themas Big Data an und zeigt anhand einer kleinen Krimi-Geschichte eine Welt, in der jegliche Information über alles und jeden permanent in Echtzeit verfügbar ist, in der jedes Leben aufgezeichnet und in eine allgegenwärtige Cloud namens Äther hochgeladen wird und in der all das auf Befehl direkt ins Sichtfeld eingespielt wird. In diesem Fall in das Sichtfeld eines Polizisten, der sofort jedes Geheimnis seiner Mitmenschen kennt, sobald er sie sieht.
Der Mensch als Bildschirm
Anon ist ein schlauer Film – wegen der philosophischen Perspektive der gezeigten Welt. Da winkt direkt Jean Baudrillard um die Ecke, der französische Philosoph und Soziologe, der quasi der geistige Vater der Matrix-Filme war, auch wenn er das nicht gerne gehört hat. „Alle unsere Maschinen sind Bildschirme, wir selbst sind Bildschirme geworden, und das Verhältnis der Menschen zueinander ist das von Bildschirmen geworden“, lautet einer seiner berühmten Sätze. Anon zeigt ziemlich gut, was das bedeutet: Menschen sind ein Objekt, das etikettiert und archiviert ist und sofort all seine Informationen preisgibt. Nichts das man hinterfragt oder erforscht, sondern etwas, das man schlicht betrachtet. Quasi wandelnde Lebensläufe.
Die Menschen in Anon interagieren nicht mehr physisch. Der Körper ist – auch das hätte Baudrillard gefallen – überflüssig geworden, alles spielt sich im Hirn und vor den Augen der Figuren ab. Menschen sitzen nur noch still herum oder stehen im Raum, während sie virtuell Arbeiten erledigen und Daten-Schnipsel austauschen. Das heutige Smartphone in der Hand ist internalisiert ins Hirn. Die einzigen physischen Handlungen bestehen aus Essen, Sex und im Krimifall aus Töten. Die Menschen reden, als läsen sie einen Text ab, ganz einfach weil jeder schon sieht, was der andere meint. Und sie haben keine Emotionen mehr, weil sie alles, was sie ausdrücken wollen, als Datenpaket ins nächste Gehirn versenden können.
Plätschern in einer tristen Welt
Apropos: Selbst das Hirn ist eigentlich nicht mehr gefragt. Denn Owen hat die Erinnerungen an seinen – Klischee! – toten Sohn als Bilddateien abgespeichert. Und diese Erinnerungen sind weg, sobald sich jemand in sein System hackt und die Daten löscht. Niccol hat sein Szenario ganz offensichtlich sehr gut durchdacht, auf die Spitze getrieben und in hübsch-triste Bilder mit stark reduzierter Farbpalette und minimaler Klangkulisse verpackt.
Anon ist aber auch ein schlechter Film – weil er über seine Ideen hinaus die Geschichte vergisst. Der gezeigte Kriminalfall mutet zunächst an wie ein klassischer Film Noir in verfremdetem Gewand. Aber es wird sehr schnell deutlich, dass er nur als Vehikel dient, um eine Welt ohne Anonymität vorzuführen. Spannungsmittel sind da rar gesät, Geheimnisse allzu leicht aufgedeckt. Der Fall wird mehr von den Figuren erzählt als gezeigt, womit der Film spätestens ab der Hälfte beginnt zu plätschern. So ist es auch egal, wer der große Übeltäter ist und warum er getan hat, was er getan hat. Im Kern geht es Niccol nur darum, vor einer Welt zu warnen, die in Form von Googles Datenbrillen (Neusprech: Smart Glasses) allzu bald Realität werden könnte.
Anon vs. Minority Report
Als Vergleich: Spielbergs Minority Report auf Basis einer Geschichte von Philip K. Dick – eines anderen großen Paranoikers – hat es deutlich besser verstanden, seine Zukunftsvision mit einem klassischen Whodunit zusammenzubringen. Bei Niccol kommt die große Message dafür einfach zu platt daher, wenn Colm Feore als Polizist etwa zur Hälfte des Films sagt: „Anonymität ist der Feind.“ Und wenn Amanda Seyfried am Ende dagegen hält: „Ich hab‘ nichts zu verbergen. Da ist nur nichts, was ich euch zeigen will.“
In Kürze: Andrew Niccol liefert mit Anon ein weiteres Mal eine pessimistische Betrachtung einer möglichen, nicht allzu fernen Zukunft. Als theoretisch-philosophisches Vehikel funktioniert der Film sogar sehr gut und liefert einige beeindruckende Bilder. Leider vergisst Niccol darüber seine eigentliche Geschichte und lässt seinen Film irgendwann plätschern. Dennoch: Als visualisiertes Gedankenspiel hat Anon seinen Reiz.
Bewertung: 7 / 10
Es ist vielleicht ein bisschen schade – zumindest für Andrew Niccol. Aber so reizvoll die Prämisse seines Films Anon ist, sie ist nicht ganz neu. Jemand anderes hatte schon vorher erdacht, was theoretisch längst möglich ist. Da wären zunächst die Entwickler der französischen Spieleschmiede Ubisoft, die das Spiel Watch Dogs und ein Sequel herausgebracht haben. Watch Dogs spielt nicht wie Anon in New York, sondern in einem Chicago und später in einem San Francisco der nahen Zukunft. doch dort gibt es auch ein Computersystem, das alle persönlichen Daten der Einwohner abspeichert. Es heißt nur nicht Äther, sondern ctOS, also central Operating System.
Und dann wäre da der japanische Regisseur und Autor Mamoru Oshii, der mit seinem Anime Ghost in the Shell einen Cyberpunk-Klassiker und eine Inspiration für die Matrix-Filme geschaffen hat. Im zweiten Teil namens Innocence erleben die Protagonisten, wie sich ein Hacker in ihren Verstand hackt und ihnen eine falsche Realität vorspielt. So wie das Amanda Seyfried mit Clive Owen macht.
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