Everclear – Songs from an American Movie Vol 1: Learning how to smile – langer Titel, oder? Was sich dahinter verbirgt? Hauptsächlich gute Laune. Und noch viel mehr.  

„Holla! Ja, was haben wir denn da?“ – Genau das ist meine erste Reaktion, als ich diese CD mit dem schrägen Cover und dem ewig langen Titel probehöre. Das Teil fängt zwar ziemlich verhalten an: Ich höre Grillenzirpen und ein fernes Hundegebell, ein leises Gitarren-Thema und ein paar Zeilen, die mich gedanklich in eine Heile-Welt-Vorstadt führen. Aber dann… drückt mir der zweite Song förmlich die Ohren zu! Nein, nicht mit Geschrabbel und Gedengel und lauten Riffs, sondern mit einem sauberen Stück… Ja, was liefern Everclear da eigentlich ab? Power-Pop? Fun-Punk? Alternative Rock? Na, jedenfalls etwas, das mir ein Grinsen ins Gesicht zaubert. Also, das Teil hier macht Spaß, das wird mitgenommen!

CD von Everclear mit traurigem Smiley
Smiley mal traurig – das perfekte Motto für das Album, auf dem es optimistisch und nachdenklich zugeht.

Die Suche nach neuer Musik – das geht im Jahr 2000 noch in etwa so: Auch wenn der Millennium-Bug die meisten Computersysteme unversehrt gelassen hat und auch wenn es schon seit einem Jahr Napster gibt, so folgt man damals keinem Algorithmus, sondern der eigenen Nase im Elektronikmarkt. In diesem Fall nicht irgendeinem: Ich stöbere durch die örtliche Niederlassung der Ernst Brinkmann KG. Falls die niemand mehr kennt, ist das kein Wunder, denn die Kette soll ein Jahr später pleite gehen. In der Folge wird das Gebäude der lokalen Niederlassung abgerissen, an gleicher Stelle entsteht ein Parkhaus mit einem bekannten Gastro-Franchise im Erdgeschoss, das Pizza und Pasta bietet…

Aber ich schweife ab. Was ich eigentlich sagen will: Es ist schon verdammt lange her, dass ich über diese CD mit dem verheißungsvollen Titel „Songs from an American Movie“ stolpere.

Eine Scheidung = zwei Alben

Everclear also. Die Band ist damals gerade auf dem Zenit ihrer Karriere angekommen. Das Trio rund um Mastermind Art Alexakis hat zu diesem Zeitpunkt schon zwei beachtliche Alben vorzuweisen. Insbesondere der Vorgänger So much for the Afterglow enthält mehrere Ohrwürmer, die ziemlich gut abgehen und auch in Filmen wie Romeo + Julia, Scream 2 oder Blast from the Past untergekommen sind. Privat läuft es bei Alexakis allerdings gerade nicht so gut, denn der Mann lässt sich zum zweiten Mal scheiden. Und was machen Musiker gemeinhin, wenn sie gerade einen Tiefpunkt in Liebesdingen erleben? Jawohl, ein Album. Oder – so der geniale Einfall des Bandgründers – gleich zwei: Songs from an American Movie Vol. 1 trägt den Untertitel Learning how to smile und Vol. 2 lautet auf den Namen Good Time for a Bad Attitude.

Booklet und Ring
Ein Ring, ein Herz und ein Booklet: Das Album Learning how to smile hat einen ernsten Hintergrund, verarbeitet Bandlead Art Alexakis darin doch seine (zweite) Scheidung.

Learning how to smile ist jedoch – der Titel verrät es – kein Album der Sorte: „Die Welt ist schlecht und alle Frauen sind schei… äh, doof. Alle Frauen sind doof.“ Nein, es handelt von dem Davor, also dem Verliebtsein, und klingt deshalb durch und durch positiv, beinahe schon naiv gutgelaunt. Alexakis geht aber sogar noch einen Schritt weiter, nämlich zum Davor-Davor: Er erzählt von seiner Kindheit und Jugend in den 60ern und 70ern und frönt hemmungslos nostalgischen Gefühlen. Kündigt der zweite Song „Here we go again“ (übrigens mit einem Public Enemy-Sample inklusive) den anstehenden Rückblick an, so geht es mit dem dritten Track „AM Radio“ in die alten Zeiten, als Alexakis noch vor dem Radio hing, die Musik für sich entdeckte und am liebsten von Jimmy Page höchstselbst das Gitarrespielen gelernt hätte.

„We like Pop, we like Soul, we like Rock, but we never liked Disco.“ – AM Radio

Mit „Brown Eyed Girl“ folgt dann das einzige Cover des Albums, eine aufgebohrte Version des Klassikers von Van Morrison, die sich aber nahtlos in das übrige Material einfügt. Was übrigens sowohl die Klasse als auch die Richtung anzeigt, in die das Album deutet: Es geht recht unschuldig und optimistisch zu, es hat mehr eingängigen Pop als harten Rock und es ist immer ganz luftig und launig unterwegs. Erst in der zweiten Hälfte wird das Album etwas nachdenklicher, aber keineswegs schwermütiger.

Ganz großes Kino am Ende

Wenn der Titel schon Songs from an American Movie lautet, so gibt es gegen Ende ganz großes Kino: „Wonderful„. Wer nur auf die Musik hört, wird von der Melodie und der druckvollen Instrumentierung begeistert sein. Das Ding ist aber weder richtige Ballade noch eine richtige Uptempo-Nummer, sondern einfach ein guter Pop-Rock-Song. Wer dann auf den Text achtet, wird sicherlich etwas überrascht sein, denn der handelt von einem Kind und wie es die Scheidung der Eltern wahrnimmt. Alexakis beschreibt darin Erfahrungen, die er selbst in seiner Kindheit gemacht hat und die auch seine Tochter bei seinen Scheidungen machen musste. Insofern gewährt er dort einen tieferen Einblick in die eigene Psyche.

„I want the Things that I had before like a Star Wars poster on my Bedroom Door. I wish I could count to Ten and make everything be wonderful again.“ – Wonderful

Everclear Backcover.
Band im Hochzeitsanzug: Das Backcover dürfte ironisch zu verstehen sein.

Huch, jetzt klingt das doch noch tiefsinnig! Mag sein. Dennoch rotiert die Scheibe seit 18 Jahren regelmäßig im Player (bzw. begleitet mich die Musik als FLAC auf SD). Und ich drücke immer genau dann auf Play, wenn ich gerade ein Stückchen gute Laune und Schwung brauche. Apropos: Für eine „Ihr könnt mich alle mal“-Stimmung ist dann Vol. 2: Good Time for a Bad Attitude der richtige Soundtrack. Dieser zweite Teil ist deutlich aggressiver, härter und punkiger geworden und versprüht genau das richtige Arschtritt-Flair. Wie man sich denken kann, handelt es als Gegenstück zum ersten Teil davon, wie eine Beziehung den Bach runtergeht. Und als wäre das ein Omen gewesen: Während Vol. 1 in den USA überaus erfolgreich war, überraschte Vol. 2 einige Monate später mit deutlich schwächeren Verkäufen.

Everclear hatten nach diesem genialen Doppel leider ihren kommerziellen Höhepunkt überschritten. Die späteren Alben waren, wenn überhaupt, nur noch kleinere Hits. Es folgten der obligatorische Wechsel der Plattenfirma und der Abgang der beiden übrigen Mitglieder Craig Montoya und Greg Eklund. Ich dagegen bin der Band treu geblieben. Denn guter Rock und ein bisschen Party-Laune finden sich auch auf den neueren Stücken.

Everclear: Pop mit Punk-Attitüde


Art Alexakis besitzt die denkbar schlimmste – also eigentlich die beste – Ausgangsbasis, um Rockmusiker zu werden. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, erlebt als Kind, wie sein Vater die Familie verlässt, wie sein Bruder und seine Freundin an Drogen sterben und ist auch selbst Heroin-süchtig. Er kriegt aber die Kurve, versucht sich im Punk und gründet nach ersten Gehversuchen im Musikgeschäft schließlich 1992 Everclear mit Graig Montoya und Scott Cuthbert, der bald von Greg Eklund ersetzt werden soll.


Das erste Album World of Noise ist noch sehr roh und punkig, die Nachfolger Sparkle and Fade und vor allem der Riesen-Hit So much for the Afterglow werden immer harmonischer. Die Band wird in den USA ein Liebling der College-Radios, tourt mit Matchbox 20 und hat sogar die Black Eyed Peas als Vorband. Nach Songs from an American Movie lassen die Verkäufe allerdings nach, und 2003 folgt die Auflösung der Band in alter Besetzung. Alexakis schart jedoch neue Gefährten um sich und bringt mit Everclear bis heute Alben heraus. 2019 will er zudem seine erste Solo-Scheibe veröffentlichen.

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