Die richtige Musik für eine dreistündige Autofahrt? Mit Jamie Cullum ist man da ganz gut bedient. Dessen neues Album Taller begleitete uns auf dem Weg nach Frankfurt und spielte sich Kilometer um Kilometer ins Ohr.
Es geschieht wohl irgendwo hinter Münster, da denke ich mir: Jau, das ist doch ein nettes Album. Das lässt sich gut hören. Das macht Laune. Rund um mich herum befindet sich gerade münsterländisches Niemandsland, irgendwo kommt die Abfahrt Ascheberg, falls das jemandem etwas sagt. Ich bin auf dem Weg in Richtung Frankfurt, draußen herrschen irgendwas um die 30 Grad Celsius, drinnen arbeiten die Klima-Anlage – und der CD-Player. „For the Love“ lautet der Song, der sich mir da in die Hörgänge schmeichelt. Und das gleich vorweg: Es ist sicherlich nicht der spektakulärste Song auf Jamie Cullums neuem Album namens Taller. Es ist sogar einer der radiotauglichsten, und darunter verstehe ich normalerweise musikalisches Fastfood. Doch jetzt gerade, so bei entspanntem Tempo und mit noch knapp 270 Kilometern voraus, kommt der genau richtig.
Klar, das gebe ich zu: Dass jemand auf der Autobahn unterwegs ist und nebenbei Musik hört, das ist nun wirklich nicht ungewöhnlich. Wozu die Geschichte? Ganz einfach: Jamie Cullum hat – wie gesagt – ein neues Album herausgebracht. Und alltagsbedingt lag das ein Weilchen herum, bis mir der Frankfurt-Trip endlich genug Zeit gibt, das Ding auf Herz und Nieren zu prüfen. Das hat einen Vorteil: Ich höre nur die Musik. Das ganze Brimborium, das das Plattenlabel um das Album aufgebaut hat, ist bis dahin an mir vorbeigegangen. Erst im Nachhinein fällt mir auf, dass es wohl keine Rezension gegeben hat, die nicht irgendwie das Presseheft heruntergebetet hat von wegen: Das Album heißt Taller, weil der Jamie halt klein ist mit seinen knapp 1,60 Meter und davon singt, gerne größer zu sein. Körperlich und charakterlich. Tja, wem Cullums geringe Körpergröße in den vergangenen 20 Jahren seit seinem ersten Album noch nicht aufgefallen ist…
Die A45 ist mit Cullum etwas weniger ätzend
Die Musik also. „For the Love“ ist der sechste Song auf dem Album, und auf meinem Weg von Niedersachsen nach Hessen sind da schon einige Songs durchgelaufen. Der Titelsong „Taller“ ist ein klassischer Cullum-Song, der geht gut voran und kommt im Retro-Soundgewand wie ein moderner Soul-Klassiker. „Life is Grey“ ist eine kleine intime Verschnaufpause, bevor mit „Mankind“ das nächste Stück kommt: eigentlich ein Popsong, aber mit leichter Gospel-Attitüde im Refrain. „Usher“ ist deutlich rauer und funkiger. Und „The Age of Anxiety“ könnte auch als Song für den Soundtrack eines Films geschrieben sein – so wie Cullums „Gran Torino“ für den Film von Clint Eastwood. Das hier ist quasi der inoffizielle Zwilling. Und so geht es voran, draußen zieht die Landschaft vorbei, ich wechsle von der A1 auf die A45 (die langweiligste Autobahn der Republik), gefühlte 20 Dauer-Baustellen, dazwischen Olpe, Siegen, Herborn, schließlich die Abfahrt auf die A5 (die Rennstrecke).
Bis Frankfurt dreht Taller ein paar Runden – und nimmt auch wieder die Rotation auf, als ich ein paar Tage später zurückfahre. Da starte ich bei inzwischen gefühlten 45 Grad Celsius (Frankfurter Klima) ausgerechnet mit „Show me the Magic“, das letzte Stück auf der Deluxe Version und eigentlich ein Weihnachtslied mit Swing-Orchester-Arrangement. Und wieder von vorne. Irgendwann kommt erneut „For the Love“, wie gesagt, mit seinem „Uhuhu“-Background-Chor eigentlich ein Popsong fürs Radio. Danach bekommt das Album einen kleinen Hänger, wenn auch auf hohem Niveau. „Drink“, „You can’t hideaway from Love“, „Endings are Beginnings“ – alles schicke Stücke, aber eben etwas ruhiger. Dann folgen die wieder etwas treibenderen „Monster“, „Work of Art“ – und mein persönlicher Favorit: „Marlon Brando“, ausgerechnet eine Demo-Version, die nur als Bonus auf die Langfassung gepackt wurde…
Ach, übrigens, quer durchs hessische und nordrhein-westfälische Hinterland – also bei Butzbach und Wilnsdorf – schallt mir immer wieder „The Man“ entgegen. Dabei handelt es sich wirklich um einen Soundtrack-Song, nämlich zum Film „King of Thieves“ mit Michael Caine. Draußen urdeutsche Provinz, drinnen US-amerikanische Heist-Stimmung. Ironischerweise ist dies kein Stück von Jamie Cullum, sondern eine Cover-Version von The Killers, die im Original deutlich Disco-mäßiger daherkommt. Und ironischerweise unter anderem im Trailer zum Film Vice mit Christian Bale genutzt wurde.
Taller setzt die Reise von Momentum fort
Ok, was ich mit der kleinen unspektakulären Reisegeschichte erzählen will: 1. Die Strecke ist echt sch…, pardon, suboptimal zu fahren. Der Bund sollte mal zusehen, die A45 wieder vernünftig befahrbar zu machen, das Trauerspiel dauert schon viel zu lange. 2. Taller ist echt ein geglücktes Album. Das zeigt sich daran, dass die Scheibe nicht umsonst mehrere Runden auf der langen Fahrt gedreht hat, was nicht selbstverständlich ist. Damit setzt Jamie Cullum eigentlich den Weg fort, den er vor sechs Jahren auf seinem Album Momentum begonnen hat: Er löst sich mehr und mehr von seinen jazzigen Wurzeln und bewegt sich immer mehr in Richtung Pop, Soul und Funk. Genau genommen könnte man Momentum und Taller hintereinander weghören und würde kaum Unterschiede wahrnehmen.
Gleichzeitig sind die Songs aber kein Mainstream. Jedes Stück hat doch noch ein paar musikalische Ecken und Kanten, so dass es nicht allzu schnell langweilig wird. Irgendwas im Spannungsfeld zwischen spröde und eingängig. Dazu tragen neben Cullums leicht quäkiger Stimme sicherlich auch die abwechslungsreichen Arrangements bei: Mal geht es leicht reduziert zu, mal spielt im Hintergrund das London Symphony Orchestra auf. Cullum gerät dabei zunehmend in Gefahr, dem Celine Dion-Syndrom zu verfallen, sprich: Songs, die leise und zart beginnen und sich dann zu großem Pomp mit großen Gefühlen hochschrauben. Doch das alles ist auf Taller noch absolut im Rahmen. Jamie Cullum sollte auf den nächsten Alben aufpassen, dass er sich dem Mainstream nicht zu sehr annähert und irgendwann doch reine Radio-Ware produziert. Aber vielleicht liefert er zwischendurch ja auch wieder ein jazziges „Interlude“ ab, so wie vor fünf Jahren nach Momentum.
In Kürze: Jazz, Soul, Funk, Pop, Orchester-Swing – alles drauf auf Jamie Cullums neuer Scheibe. Taller klingt angenehm abwechslungsreich und bietet einiges zu entdecken. Und gleichzeitig ist es unverkennbar eine Scheibe von Jamie Cullum. Gleichermaßen spröde wie eingängig. Nur die Liebäugelei mit dem Pop sollte auch bitte eine Liebäugelei bleiben.
Bewertung: 8 / 10
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