Warum immer in die Vergangenheit reisen und Hitler töten – oder Sarah Connor? Das Ganze kann man doch auch mal positiv angehen und Leben retten. Erst recht, wenn dabei so etwas Hübsches herauskommt wie die Serie 11.22.63 nach Stephen King.
Sie lacht ganz herzlich. Er ist charmant schüchtern. Beide stehen plötzlich im Rampenlicht, nehmen sich an den Händen, dann bewegen sie sich zur Musik, als hätten sie das schon ewig gemacht. Sie lächelt noch ein bisschen herzlicher, er nun auch, der Tanz wird ein bisschen wagemutiger. Aus den Lautsprechern in der Turnhalle schallt Glenn Miller – „Little brown Jug“. Um das Paar herum stehen Schüler, zuerst etwas belustigt, dann begeistert. Dieses Paar sind ihre Lehrer, der Anlass ist ein Schulball. Beide sind füreinander bestimmt, das ist sofort zu sehen. Und tatsächlich ist das alles ein bisschen wie im Märchen, ein Stück verfilmte Unschuld, zumindest dieser eine Moment. Da grinst auch der härteste Nerd ein klein wenig und denkt sich: Hach, schön! Und wer das nicht tut, ist ein schlechter Mensch. Jawohl.
Die kleine altmodische Tanzszene ist so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt der Serie 11.22.63. Denn sie blendet für einen Moment die gruseligen Elemente der Handlung völlig aus. Also das, was hinter den Charakteren liegt, und das, was noch vor ihnen liegt. Da steht die Zeit still, und das Geschehen konzentriert sich komplett auf das Glück der beiden Hauptfiguren. 11.22.63 ist eine Verfilmung des Buchs Der Anschlag von Stephen King. Und so gibt es ein fantastisches Element, denn „er“, also der Tänzer, ist eigentlich ein Besucher aus der Zukunft, der in der Zeit zurückgereist ist, um das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 – daher der Titel – zu verhindern. Dargestellt wird der Zeitreisende von James Franco, der hier keinen Freak in einer Gaga-Komödie spielen muss, sondern engagiert und souverän durch die Handlung führt.
Außen Brutales, innen Romantisches
Franco findet in der Vergangenheit sein wahres Lebensglück – und das trotz einiger Grausamkeiten, die um ihn herum geschehen. Da gibt es – auch das ist King – sadistische Psychos, die mit dem Vorschlaghammer ihre Familie abschlachten. Es gibt brutale Buchmacher, die eine verlorene Wette mit Gewalt quittieren. Es gibt psychopathische Ehemänner, die ihre Frauen mit dem Messer bearbeiten. Und es gibt natürlich eine gute Dosis Zeitkolorit, etwa wenn eine Frau nicht an der Tankstelle bedient wird, nur weil sie nicht weiß ist, oder wenn Lee Harvey Oswald nicht nur historische Randfigur bleibt, sondern ein lebendiger Charakter wird, der seine Ehefrau schlägt.
Gerade aus diesem Kontrast der harten Wirklichkeit mit ihren menschlichen Abgründen einerseits und der Liebesgeschichte der Hauptfiguren andererseits bezieht 11.22.63 seine besondere Stärke. Das erinnert sicherlich nicht ganz zufällig an King-Storys wie Stand by me oder die beiden Knastgeschichten The Shawshank Redemption und The Green Mile. Bei Stand by me ist es die Geschichte der Kinder, deren unschuldige Welt immer wieder von Problemen mit Eltern und älteren Jugendlichen – oder von Wachhunden und Blutegeln – durchbrochen wird. Und bei den Impressionen aus dem Gefängnis ist es der Umgang der Charaktere mit sadistischen Wärtern oder schlicht mit dem Ende auf dem elektrischen Stuhl, wobei immer wieder Momente wahrer Menschlichkeit durchschimmern. Klingt vielleicht kitschig, ist aber so.
Ein großer Verdienst kommt dabei dem psychopathischen Personal zu, der für ausreichend Spannungs- und auch Schockmomente sorgt. Insbesondere Josh Duhamel, den man sonst nur als Strahlemann aus den Transformers-Filmen sowie aus einigen RomComs kennt, gibt hier einen grobschlächtigen und unberechenbaren Patriarchen. Auch T.R. Knight ist als sadistischer Ehemann eine fiese Erscheidung. Und Daniel Webber mimt recht überzeugend Lee Harvey Oswald. Eine kleine Entdeckung ist übrigens George MacKay als Francos junger Helfer, den Regisseur Kevin Macdonald (The Last King of Scotland, State of Play) anscheinend von seinem Film How I live now mitgebracht hat.
Neuanfang in der Vergangenheit
11.22.63 ist weniger eine Zeitreise-Geschichte mit allen ihren Konsequenzen – etwa wenn es um die Frage geht, ob das verhinderte Attentat auf Kennedy die Welt in der Gegenwart nun besser oder schlechter macht. Die Serie ist vielmehr ein kleines Porträt einer vergangenen Zeit, als alles noch viel einfacher, gemächlicher, aber auch rauer zu sein schien, ganz ohne Smartphone, dafür eben mit Vorschlaghammer, und als das Essen noch viel besser schmeckte. Da wirft die Geschichte sogar einen recht verführerischen Gedanken auf: „Ich fühle mich wie ein Betrüger in meinem eigenen Leben“, sagt Francos Protagonist. „Ich will jetzt noch mal von vorne anfangen, sofort.“ Also warum nicht auf das Attentat pfeifen und einfach noch mal ein neues Leben beginnen, wenn das alte in der Zukunft irgendwie leer erscheint? Erst recht, wenn man die Zukunft schon kennt. Das ist übrigens – nur ganz nebenbei – auch die Quintessenz vieler Zeitschleifen-Geschichten, doch dazu ein anderes Mal.
Zeit der Unschuld
Insofern ist 11.22.63 auch gleichzeitig der Gegenentwurf einer anderen großen Zeitreise-Story: Zurück in die Zukunft. Dort erlebt Michael J. Fox ebenfalls einen Schulball, auf dem sich zwei, die füreinander bestimmt sind, verlieben. Aber er verspürt nicht den Wunsch, in einem nostalgischen und malerischen Amerika zu bleiben, also in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und vor dem Kennedy-Attentat.
Sehr zugute kommt der Serie – übrigens: produziert von J.J. Abrams – dabei, dass sie das Buch mit seiner abgeschlossenen Geschichte, wenn auch mit einigen Veränderungen, so doch in acht Folgen abhandelt. Da gibt es kein offenes Ende, sondern einen richtigen Schluss mit einer bittersüßen Note. Da verzeiht man allzu gerne, dass die Handlung auch mal den einen oder anderen unnötigen Schlenker macht. Ach ja, und bevor das unter den Tisch fällt, also in übertragenem Sinne: Die Tänzerin vom Anfang, das Love Interest von James Franco, wird ganz hinreißend von Sarah Gadon gespielt. Die ist als wackere Strahlefrau, die nichts unterkriegen kann, vielleicht ein bisschen zu idealisiert gezeichnet. Aber ihr Lächeln lässt Eisberge schmelzen, da darf man sich ruhig mal guten Gewissens verzaubern lassen.
In Kürze: Zeitreisegeschichte mal anders. 11.22.63 dreht sich vordergründig um den Gedanken: Was wäre wenn man das Attentat auf John F. Kennedy verhindern könnte. Doch vielmehr zeichnet die Serie ein Porträt des Lebens im Amerika der 60er Jahre und kann dabei auf eine spannende Geschichte und durchweg gute Schauspielleistungen bauen. Ach, und eine Romanze gibt’s auch noch, aber eine gute.
Bewertung: 8 / 10