Die Musik- und Filmwelt erlitt im vergangenen Jahr einen herben Verlust mit dem Tod von Jóhann Jóhannsson. Der Komponist hatte in kurzer Zeit ein sehr bemerkenswertes Werk geschaffen. Nun widmet sich Retrospective I dem frühen Schaffen des Isländers.
Hu, Jóhann Jóhannsson. Jetzt wird’s schwierig. Also für mich. Es klingt vielleicht etwas platt, aber der gute Jóhann hat Musik gemacht, die man hören muss. Weil sie eben nur sehr umständlich in Worte zu fassen ist. Natürlich kann man das versuchen, dann klingt das in etwa so: Jóhannsson war ein Klangmaler und ein musikalischer Grenzgänger zwischen traditioneller orchestraler und elektronischer Musik. Aber mehr noch, er schaffte es, mit simplen Motiven ein extrem hohes Maß an Komplexität und vor allem Emotionalität zu erzielen – eine sehr zerbrechliche und melancholische Atmosphäre. Man könnte sich das beinahe wie eine dünne Schicht Glas vorstellen, die sehr leise, aber eindringlich melodisch vor sich hinvibriert. Und da haben wir das Dilemma: Diese Beschreibung wird der Musik doch nicht gerecht, wenn man sie erst hört. Und vor allem: Wenn man sich darin vertieft.
Jóhann Jóhannsson war als Komponist brillant. Auf seine Weise schon fast genial, da sind sich irgendwie alle einig. An die Stelle von Virtuosität stellte er Konzepte, die Mischung von Stilen und Genres. Und: den Klang an sich. Seine ruhigen und fragilen Musiken bauen auf Wiederholung und Entwicklung. Der Isländer nahm damit eine besondere Stellung im Filmmusik-Betrieb ein und machte sich mit seinen Scores zu Filmen von Denis Villeneuve wie Prisoners und Arrival einen Namen. Gleichzeitig wurde er zu den wichtigsten Vertretern der Neoklassik gezählt, zu denen auch Max Richter, Ólafur Arnalds oder selbst Ludovico Einaudi gehören. Ich schreibe das übrigens ganz bewusst in der Vergangenheitsform, denn Jóhannsson ist im Februar vergangenen Jahres im Alter von 48 Jahren gestorben. Die Umstände und Gründe sollen uns hier einfach mal egal sein, spekulieren will ich nicht.
„I have a strong believe in the power of simplicity and emotional directness.“ – Jóhann Jóhannsson
Frühes und schwer Erhältliches
Die Deutsche Grammophon hat mehr als ein Jahr gewartet, bis sie eine Werkschau Jóhann Jóhannssons aufgelegt hat. Retrospective I lautet der schlichte Titel der limitierten Edition in Form eines Hardcover-Buchs. Ein zweiter Teil ist angekündigt. In diesem besonderen Fall habe ich mich sehr über die Neuauflage von Jóhannssons Werken gefreut – denn sie ist mehr als das. Die Edition gibt dem Musikfreund die Gelegenheit, problemlos einen Überblick über sieben frühe Kompositionen Jóhannssons zu erhalten – und dabei einige nur noch schwer erhältliche Werke zu erstehen. Darunter die Musik zur Dokumentation Free the Mind. Ich hatte mir das gute Stück seinerzeit für einen stattlichen Preis aus Japan bestellt, und natürlich war es nie angekommen. Retrospective I bietet noch ein weiteres Schmankerl, denn enthalten ist in der Sammlung der bislang unveröffentlichte Score zum Film White Black Boy.
Als kurzer Zwischenruf: Meine erste Begegnung mit Jóhann Jóhannsson war zweigeteilt und vermittelte mir auch gleich die beiden Pole, zwischen denen ich sein Werk einordne: einerseits der Score zum Stephen Hawking-Biopic Die Entdeckung der Unendlichkeit, der mit einem Golden Globe ausgezeichnet wurde, andererseits das Solowerk Orphée. Das eine ist eine wunderschön harmonische und reiche Musik, die sich in die Gehörgänge schmeichelt und dem Hörer die Filmhandlung einordnet. Das andere ist ein so melancholisches wie meditatives Werk, das allerdings das Kunststück hinbekommt, nicht einfach Ambient-Klangteppiche zu liefern, sondern bezaubernde Melodien, die eine innere Spannung aufbauen. Nicht unbedingt etwas, das man beim Sport an sonnigen Tagen laufen lässt, zu dem man aber spätestens am Abend wieder zurückkehrt.
„I’m not a classical composer. I’m not a neo-classical composer. I’m just a composer writing music.“ – Jóhann Jóhannsson
„Piuuu“ und „Buuhb“
Kein Wunder also, dass ich auf die kleine Werkschau Jóhannssons gespannt war. Und um mal kurz auf die einzelnen Stücke in der Sammlung einzugehen…
- Virðulegu Forsetar: „Virthulegu Forsetar“ ist vielleicht ein etwas sperriger Einstieg in die Retrospektive. Und doch ein guter, weil er mit Jóhannssons Stilmitteln vertraut macht. Dabei handelt es sich um Jóhannssons zweites Werk aus dem Jahr 2004. Geboten wird ein 65-minütiges Stück Musik in vier Abschnitten, das im Kern auf einem recht einfachen Thema für ein Blechbläser-Ensemble aufbaut. Dieses wird über die gesamte Laufzeit variiert mit wiederkehrenden Pausen dazwischen. Die Basis für diese musikalische „Wandlung“ bilden zwei Kirchenorgeln, die praktisch einen Grundton spielen. Zwischendurch wird etwas Klavier und Glockenspiel eingestreut – und etwas Elektronik. Hat was. Man muss aber in Stimmung sein dafür.
- Dís: Das Album kam im Jahr 2005 heraus – und hat zunächst mal alle Interessenten verstört, die sich erneut etwas Ruhiges und Meditatives von Jóhann Jóhannsson erhofft hatten. Warum? Dís ist ein Soundtrack für eine isländische Komödie. Und der Komponist hat doch die Unverfrorenheit, ein elektronisches Pop-Album abzuliefern! Damit kehrt Jóhannsson praktisch zu seinen Wurzeln zurück: Als Mitbegründer der Band Apparat Organ Quartet hatte er sich 1999 zunächst der elektronischen Musik verschrieben. Dís irrlichtert nun irgendwo zwischen Kraftwerk, Daft Punk und Post-Rock, ist ganz beschwingt und bietet als Kirsche auf der Sahne ein paar „Piuuu“- und „Buuhb“-Retrosounds, die entfernt an Disco und Buck Rogers erinnern. Oder auch an Badly Drawn Boy.
- And in the endless Pause there came the Sound of Bees: Das ist nicht nur mit Blick auf die Titellänge das Gegenstück zu Dís, sondern auch musikalisch wird andere Kost geboten. Das Album enthält die Musik für den Animationskurzfilm Varmints von 2008. Und es handelt sich dabei vielleicht um den untypischsten Score, der bislang einen Animationfilm schmückt. Denn er ist subtil, intim, düster und weit entfernt von irgendeiner Form einer niedlichen Karikatur. Passt aber auch zum Film: Da geht es um einen Hasen, der miterleben muss, wie sich eine graue Stadt immer weiter ausbreitet und seine heimische Wiese unter sich begräbt. Jóhannsson arbeitete hier mit den Prager Philharmonikern zusammen. Der Film war übrigens für einen BAFTA nominiert.
- The Miners´ Hymns: Wie sagte ein Kritiker? Das ist nicht unbedingt die richtige Musik für die nächste Grillparty. The Miners´ Hymns entstand zwar 2010 als unabhängiges Werk, doch der Filmemacher Bill Morrison wählte es als Score für seine Dokumentation über die Arbeit in den nordenglischen Kohleminen und den Niedergang der Bergbau-Städte. Dass dabei nicht die Sonne aufgeht, dürfte klar sein. Es gibt bedrückend-düster-dissonante Kost für ein Blechbläser-Ensemble, eine Orgel und etwas Elektronik. Streckenweise erinnert mich das Album an den Score zum Sci-Fi-Film Arrival, nur mit organischerem Klangwerk. So bauen die sechs Tracks auf dem Album auf einer Serie tiefer Töne auf mit Pausen, Echos und einer absteigenden Basslinie im Stück „There is no safe Side but the Side of Truth“. Weitere Highlights: „They being dead yet speaketh“ und „Industrial ad provident, we unite to assist each other“.
- Copenhagen Dreams: Wieder ein Score zu einer Doku, dieses Mal über die dänische Hauptstadt Kopenhagen, entstanden 2012. Die Doku führt durch die Stadt und liefert Impression um Impression. Und die Musik folgt diesem Prinzip, indem die einzelnen Tracks nicht zusammenhängend auftreten, sondern sich sich auf die einzelnen Stationen des Films einstellen. Mal gibt es grazile Klavierstücke, mal etwas reichhaltigere Arrangements fürs größere Ensemble, dazwischen auch gerne eine Frauenstimme. Die für Jóhann Jóhannsson typische Wiederholung einzelner Motive findet sich ebenfalls auf dem Album. Jóhannsson arbeitet dabei übrigens mit der befreundeten Cellistin und Komponistin Hildur Guðnadóttir zusammen, die hier allerdings „nur“ ihre Stimme beisteuert. Mit ihr hatte er die Künstlergruppe Kitchen Motors betrieben.
- Free the Mind: Doku, die dritte. In dem Film von 2014 geht es um Hirnforschung und den Umgang mit Stress und Schmerz. Doch keine Angst: Der Schmerz überträgt sich nicht auf den Hörer des Scores. Jóhannsson hat eine harmonische Musik für Streicher geschaffen, die nahtlos mit elektronischen Sounds kombiniert wird und die mit ihren fortlaufenden Motiven eine große Spannung aufbaut. Wenn man interpretieren möchte, könnte man meinen, Jóhannsson hätte hier die „harte“ Wissenschaft mit der Beschreibung von Wahrnehmung, Bewusstsein und Achtsamkeit gemischt. Highlight: Das treibende Stück „Lab“. Teilweise fühlte ich mich bei diesem Score übrigens entfernt an John Barrys Musik für den Disney-Sci-Fi Das Schwarze Loch aus den späten 70ern erinnert.
- White Black Boy: Aller guten Dinge sind… vier. White Black Boy ist eine Dokumentation von 2012 über einen Jungen in Tansania. Der ist nicht einfach ein Junge, sondern weist die Merkmale des Albinismus auf. Und Albinos werden in Tansania ausgestoßen und sogar getötet. Jóhannsson ist das Thema behutsam angegangen und hält sich entsprechend zurück – zugegeben: Als Minimalist fällt ihm das nicht schwer. Er setzt auf tiefe, sphärische Klänge, aus denen immer wieder helle Tonfolgen in unterschiedlicher Variation wie ein Hoffnungsschimmer hervorbrechen. Im Grunde waren nur Elektronik, Klavier, etwas Percussion und ein Cello beteiligt. Doch White Black Boy ist desto mehr ein gutes Beispiel dafür, welch komplexe Scores Jóhann Jóhannsson mit minimalen Mitteln schaffen konnte. Übrigens: Das Cello wird von Hildur Guðnadóttir gespielt. Anspieltipps: „Exam Results“ und „Time to say goodbye“.
Tja, wenn man ein Fazit zu dieser Siebener-Reihe ziehen möchte: Dís auf den Samstag legen, dann fällt The Miners´ Hymns auf den Montag. Dürfte stimmungstechnisch an beiden Tagen passen.
Guter Überblick, aber mit Lücken
Aber nein, ernsthaft: Retrospective I gibt tatsächlich einen netten Überblick über die früheren Schaffensjahre Jóhannssons und rückt damit einige eher wenig beachtete Werke ins Rampenlicht. Das neueste Werk der Sammlung Free the Mind markiert einen Schnitt in der Karriere des Komponisten, denn in den Folgejahren konzentrierte er sich mehr auf die Arbeit für (größere) Spielfilme. Nach Prisoners 2013 kam 2014 Theory of Everything, 2015 Sicario, 2016 Arrival. Und 2017 sollte eigentlich Blade Runner 2049 folgen. Aber wir erinnern uns: Der Score wurde kurz vor der Premiere verworfen, und Hans Zimmer bastelte zusammen mit Benjamin Wallfisch in Windeseile eine Musik im Stil dessen, was Vangelis für den ersten Blade Runner geschrieben hatte. (Und die – meine Meinung – im Film eine beinahe meditative Wirkung erzielt.) Wenn Jóhann Jóhannsson nun aber eine Retrospektive spendiert bekommt, bleibt zu hoffen, dass seine Komposition für den Replikanten-Jäger vielleicht auch noch mal veröffentlicht wird.
Genauso interessant – aber das nur am Rande – wäre es, auch noch mal die Musik zu Gehör zu bekommen, die Jóhann Jóhannsson für Darren Aronofskys Mother! geschrieben hatte. Der Komponist hatte ein Jahr an dem Film gearbeitet, um sich dann mit dem Regisseur darauf zu einigen, dass Mother! ohne Musik besser wäre. So entschieden sich beide für eine Alternative, nämlich ein Sound Design.
Vollständigkeit garantiert diese Musiksammlung der Deutschen Grammophon allerdings nicht. Es fehlt Jóhannssons vielbeachtetes Debütalbum Englabörn von 2002 genauso wie das Werk IBM 1401, A User’s Manual von 2006. Gerade Letzteres finde ich sehr gelungen und auch interessant. Wobei man wissen sollte, dass mit dem IBM 1401 der erste wirklich bezahlbare PC gemeint ist und Jóhannssons Vater ein führender Programmierer bei IBM gewesen war. Auf dem Album gelingt es dem Komponisten ziemlich gut, das Digitale mit dem Geistigen zusammenzubringen – ein Thema das sich letztlich durch alle seine Werke zieht, indem er Elektronisches und Instrumentales mischt. Zudem wäre noch das Werk Fordlandia zu erwähnen. Nun ja…
Persönlich und erklärend
Dafür enthält Retrospective I zwei Essays des amerikanischen Radiomoderators John Schaefer und des Musikjournalisten Wyndham Wallace. Beide ordnen die Werke in der Sammlung persönlich und treffend ein. Zudem liefert das Booklet massenweise Fotos aus Jóhann Jóhannssons Werdegang und denkwürdige Zitate von und über den Komponisten. Auch wird schon angedeutet: In Retrospective II wird es unter anderem um Arrival, Sicario und The Mercy (dessen Musik sich großteils deckt mit dem Solo-Werk Orphée) gehen. Schön, dass sich das Plattenlabel nach der gebotenen Schamfrist an der Edition versucht hat. Und sehr bedauerlich, dass es einen solch bemerkenswerten Musiker so früh aus dem Leben gerissen hat. Ein ziemlich herber Verlust, denn ich bin mir sicher, da wäre noch einiges zu erwarten gewesen.
Einen Eindruck davon vermittelt übrigens Jóhann Jóhannssons letzter Score zum Film Mandy von Panos Cosmatos oder seine Arbeit am Film Mary Magdalene. Die hatte dann allerdings Hildur Guðnadóttir zu Ende gebracht (und ebenso übernahm sie die Musik für den zweiten Teil des Drogenthrillers Sicario).