John Williams kennt man. Seine Stücke kennt man auch. Schön, wenn es dann auch mal Künstler gibt, die dem Altmeister ein paar neue Seiten (und Saiten) abgewinnen: David Helbock und Anne-Sophie Mutter.
Ja, wer tut denn so etwas einer harmlosen Eule an? Und warum überhaupt? Da nimmt jemand das arme Stück komplett auseinander. Er zerlegt es in seine Einzelteile, befreit es von sämtlichem Drumherum und schabt es bis auf die Knochen ab. Und das Skelett nimmt er und setzt es neu zusammen. Heraus kommt ein Kunstwesen, das vielleicht entfernt noch an die Eule vom Anfang erinnert. Aber dann auch wieder etwas, das fremd wirkt, komplett unbekannt. Und überhaupt: Darf der das? Schwer zu sagen, aber er macht es jedenfalls. David Helbock heißt der Mann, seines Zeichens Pianist und dort vor allem dem Jazz zugetan. Und das Vogeltier, dem er sich da annimmt, ist Schnee-Eule Hedwig. Oder genauer: das berühmte Musikstück „Hedwig’s Theme“ von John Williams, das gemeinhin als Erkennungsmelodie für den Zauberlehrling Harry Potter gilt.
Insofern geht es hier auch nicht ums Metzgerhandwerk, wenn vom Zerlegen des Vogels die Rede ist. Vielmehr um musikalische Chirurgie. Helbock spielt das bekannte Stück nicht einfach nach, so wie es viele vor ihm getan haben und vermutlich auch viele noch tun werden. Ganz im Jazz-Stil variiert er das Musikstück, er improvisiert darüber – und vor allem: Er experimentiert. Ausgiebig! „Hedwig’s Theme“ zieht sich als bestimmendes Thema durch Helbocks neues Album Playing John Williams – Piano Works XIV. Dabei bleibt der Pianist nicht nur an den Tasten, sondern steigt in den Korpus seines Instruments, reißt und schlägt die Saiten direkt an, ringt der Musik neue Klänge ab. Da geht es mal verträumt und in den oberen Oktaven zu, dann wieder getragen und düster, dann voller Tempo, beinahe nervös. Doch John Williams ist da irgendwo noch immer auszumachen.
„Celebrating John Williams“ ohne Ende
John Williams hat Hochkonjunktur. Das mag man zumindest meinen, wenn man sich einige Veröffentlichungen der vergangenen zwei Jahre anschaut. Je älter der Mann wird, desto mehr Orchester, Dirigenten und sonstige Musiker fühlen sich offensichtlich berufen, seine Stücke neu aufzunehmen – um sie damit natürlich zu ehren, aber gleichzeitig auch, um Alben zu verkaufen. Nur einige Beispiele? Die Boston Pops unter Leitung von Keith Lockhart haben vor zwei Jahren das Album Lights, Camera… Music – Six Decades of John Williams herausgebracht. Vergangenes Jahr folgte das London Symphony Orchestra mit John Williams – A Life in Music. Und die Dallas Wind Symphony, ein symphonisches Blasorchester, hat Williams at the Movies herausgebracht. Dieses Jahr dann die Los Angeles Philharmonic unter dem Dirigat von Gustavo Dudamel mit Celebrating John Williams.
Allen diesen Alben ist gemein: Sie bewegen sich in der Darbietung auf zweifellos hohem Niveau. Das sollte man auch erwarten dürfen, schließlich hat Williams oft genug mit den Londonern zusammengearbeitet und stand den Bostonern jahrelang selbst vor. Aber: Die Alben bieten eigentlich nichts Neues: Superman, E.T., Harry Potter, Jurassic Park, Raiders of the Lost Ark, Jaws, Saving Private Ryan und vor allem Star Wars, Star Wars, Star Wars… Wenn man Glück hat, dann gibt es auch mal ein paar Ausreißer wie Heidi, Goodbye Mr. Chips oder Williams‘ Olympische Fanfare. Man kann das Ganze positiv sehen: John Williams erfährt so langsam vergleichbar viele Einspielungen wie einige klassische Komponisten. Das zeigt, wie weit der Kulturbetrieb die Musik inzwischen anerkennt.
Andererseits darf man als geneigter Sammler und Fan die Frage stellen, wie viel Mehrwert denn die x-te Neueinspielung hinlänglich bekannter Stücke bietet. Erst recht wenn man sowieso die Originale längst auf CD hat, die ebenfalls bereits immer wieder in expandierten Deluxe und Special Editions vorgelegt werden. Auch das ist ein „Problem“, das es in der Klassik gibt. Auf Beethoven, Bach und Händel in Hunderten Variationen folgt Williams.
John Williams mal anders
Da mag man für zwei Alben dankbar sein, die unlängst erschienen sind und die sich Williams auf besondere Arten nähern. Das eine Album ist das bereits angesprochene von David Helbock mit seinem experimentell-jazzigen Ansatz. Das andere ist das Album Across the Stars der Violinistin Anne-Sophie Mutter. Das Besondere dort: John Williams höchstselbst hat mehrere seiner Kompositionen für Solo-Violine mit Orchesterbegleitung arrangiert. Die Zusammenarbeit ist auch eigentlich naheliegend und längst überfällig: Mutter und Williams sind schon seit Jahren befreundet. Die Violinistin war einst mit Komponist Andre Previn (R.I.P.) verheiratet, als dieser in Hollywood arbeitete und selbst ein freundschaftliches Verhältnis zu Williams pflegte.
So reichen die Wurzeln des Albums einige Jahre zurück. Damals hatte Williams bereits die Stücke „Across the Stars“ aus der zweiten Stars Wars-Episode und „Night Journey“ aus der Dracula-Verfilmung von 1979 für Mutter umgeschrieben. Nun folgte eine ganze Reihe weiterer bekannter Stücke, eingespielt mit dem Recording Arts Orchestra of Los Angeles, dirigiert von John Williams höchstselbst. Und wie zu lesen war, hat Williams die Kompositionen sogar auf den Klang von Mutters Stradivari abgestellt.
Star Wars-Rey mit mehr Prägnanz
„Rey’s Theme“ ist das musikalische Leitmotiv für die siebte Star Wars-Episode The Force Awakens und gleichzeitig für Hauptcharakterin Rey. Das Stück wird normalerweise von Holzbläsern gespielt und dann von Streichern übernommen. Nun ist es Anne-Sophie Mutters Violine, die sofort die Führung übernimmt – und die dem Stück im direkten Vergleich tatsächlich zusätzliche Prägnanz verleiht. Wie Mutter beinahe verspielt durch die Melodie tanzt und springt, also in übertragenem Sinne, ist absolut virtuos. Da ist es auch zu verschmerzen, dass diverse Ausschmückungen durch die Geige schon fast ein wenig kitschig wirken.
In dem Sinne geht es auf dem Album auch locker weiter. „Yoda’s Theme“ und das Liebesthema „Across the Stars“ lassen sich gepflegt von der Violine tragen, während im Hintergrund die Streicher anschwellen und die Bläser den Wohlklang nochmals verstärken. Vereinzelt ist mal ein Pizzicato von Mutter zu vernehmen, die dann fließend zum „normalen“ Spiel zurückkehrt. Harry Potters Eule darf übrigens auch nicht fehlen, klingt hier aber natürlich deutlich vertrauter: „Hedwig’s Theme“ steigt mit dem bekannten Glockenspiel ein, Mutter beginnt das Thema, lässt den Bogen wiegen und die Saiten knarzen, um dem Stück einen eigenen leicht verstiegenen Charakter zu verleihen. Das bleibt aber nicht lange so, es folgt ein „Flug“ über die Saiten, dann wieder ein selbstbewusstes Pizzicato über die Melodie des Orchesters, dann wieder ein Spiccato, also das leichte „Aufhüpfen“ des Bogens.
Geige, Geige und nochmals Geige!
Mit anderen Worten: Mutter zieht alle Register ihres Könnens. Das macht sie wirklich einzigartig und das ist für Freunde der Violine ein beinahe atemberaubendes Erlebnis. Das klingt nach zu viel Superlativ? Nein, die Violinistin hätte nicht ihren Ruf, wenn sie ihr Handwerk nicht verstünde. Und so erfahren Filme wie Far and Away, Sabrina, Munich, das unvermeidbare Schindler’s List mit seinem klagenden Hauptthema oder Memoirs of a Geisha ihre gekonnte Neu-Erscheinung. Für den geneigten Fan gibt es dann noch ein besonders Goodie: „Princess Leia’s Theme“, das Thema für die Sternenprinzessin, dargestellt von Carrie Fisher (R.I.P.). Und – man höre und staune – etwas wirklich Neues gibt es auf dem Album auch noch: John Williams hat für Mutter das knapp 9-minütige „Markings“ geschrieben, ein Stück für Solo-Violine, Streicher und Harfe.
Wenn man etwas an dem Album kritisieren wollte, dann höchstens: Die Geige steht ein kleines Tickchen zu sehr in Vordergrund. Das ist bei einem Arrangement für Solo-Violine natürlich keine Überraschung. Aber es degradiert das Orchester zur reinen Begleitung. Neben dem virtuosen Saitenspiel bekommt kein Instrument die Chance, mal kurz gleichberechtigt aufzuspielen oder zumindest aufhorchen zu lassen. Und: Experimente gibt es hier auch nicht. Alles ist gekonnt arrangiert, aber harmonisch – und vor allem: hübsch anzuhören.
Der wohltuende Kontrapunkt
Das Album von David Helbock setzt dazu einen – Achtung, Wortwitz – geradezu wohltuenden Kontrapunkt. Helbock verlässt sich nicht auf den typischen Wohlklang, den beinahe jedes Stück von Williams auszeichnet. Ganz im Gegenteil, er strippt die Melodien herunter bis zur nackten Dissonanz und erschafft etwas Neues. Selbst vor „Schindler’s List“ macht er dabei nicht Halt: Helbock schlägt das Thema direkt auf den Saiten an mit einem tiefen Grundton, spielt die Melodie mal kurz hell und harmonisch aus und verfällt dann sofort wieder ins Düstere. „Superman“ ist sogar kaum noch als die harmonisch-optimistische Fanfare des stählernen Helden auszumachen. Der Pianist baut wilde Improvisationen auf einem tiefen Ostinato auf und kommt dabei sogar beim Boogie-Woogie an. Das eigentliche Leitmotiv des Comichelden ist stark verfremdet und nur spät auszumachen. Mit anderen Worten: Helbocks Album ist spezieller. Und es verlangt dem Zuhörer einiges ab. Aber das Gute daran: Er schickt den Zuhörer auf Entdeckungstour.
Beide Projekte erfahren eine leicht unterschiedliche Resonanz. Das weithin etablierte Gespann Mutter-Williams durfte durch diverse Leitmedien wandern. Und die Violinistin gab sogar ein vielbeachtetes Konzert mit dem Royal Philharmonic Orchestra unter Leistung von Filmkomponist David Newman auf dem Münchner Königsplatz. Wo sie übrigens auch das Stück „Devil’s Dance“ aus den Hexen von Eastwick präsentierte, das auf dem Album fehlt. Apropos: Across the Stars wurde von der geschäftstüchtigen Deutschen Grammophon unlängst ein zweites Mal als Deluxe-Version in erweiterter Form und mit DVD und 17 anstelle von 12 Tracks veröffentlicht. Der 35-jährige Helbock dagegen spielt sich derzeit durch diverse Kultursäle und befeuert vor allem die Berichterstattung der Regionalausgaben.
Das soll nun keine Darstellung nach dem Motto „David gegen Goliath“ sein. Denn musikalisch sind beide Parteien auf höchstem Niveau unterwegs. Aber es ist vielleicht als kleine Motivation zu verstehen: Wer nicht nur in Altbekanntem schwelgen, sondern John Williams auch mal neu entdecken will, der sollte wagemutig und freudig nicht nur zu Anne-Sophie Mutter, sondern auch zu David Helbock greifen.