Kunterbunt und beschwingt ins neue Jahr – geht das besser als mit Mary Poppins? Zumal derzeit die Rückkehr der magischen Disney-Nanny ins Kino ansteht. Aber ist der Klassiker von 1964 so makellos?
„Superkalifragilistikexpialigetisch. Dieses Wort klingt durch und durch furchtbar, weil synthetisch.“ – Na, wer hat die Melodie im Ohr, und das nur dank dieser einen Zeile? Hat sich eingebrannt, oder? Dann wollen wir das Lied in Gedanken gerne noch ein bisschen weitersummen: „Wer es laut genug aufsagt, klingt klug und fast prophetisch, superkalifragilistikexpialigetisch.“ – Die klangvolle Wortschöpfung ist, wenn man so will, die Quintessenz von Mary Poppins. Denn sie sagt alles und nichts: Das Treiben um die magische Nanny ist filmgewordene Fantasie. Und es ist auch filmgewordener Blödsinn.
Beschwingter Nonsens, der doch irgendwie Sinn ergibt. Nicht umsonst heißt es im Film: Wenn man nicht mehr weiß, was man sagen soll, sagt man einfach „superkalifragilistikexpialigetisch“. Und schwupps, weicht der größte Dickschädel auf und erledigt sich das größte Problem von selbst.
Fantasie aus der Fabrik
Mary Poppins ist zunächst mal Form über Inhalt. Die Disney-Produktion dürfte einer der Gründe sein, warum Hollywood den Beinamen „Traumfabrik“ trägt. Der Film ist eine Fantasiereise und gleichzeitig Studioprodukt. Kunterbunt, künstlich, mit hohem technischen Aufwand auf die Leinwand gebracht – aber auch mit Herz und Humor. Insofern steht der Film sicherlich in einer Reihe mit anderen verfilmten Ausflügen in eine reiche Fantasiewelt – etwa mit Disneys animierter Alice im Wunderland (nach Lewis Carroll) oder mit MGMs Der Zauberer von Oz (nach Frank L. Baum). Egal ob es um die Cherry Tree Lane in London geht oder um einen animierten Jahrmarkt in einem Straßenbild auf einem Pflasterstein – all das ist weit entfernt von der realen Welt, und das soll auch genauso sein.
Musikalische Großtat ohne Maß
Die Faszination von Mary Poppins entsteht aber nicht allein aus den Bildern. Mindestens gleichwertig zur kunterbunten Optik ist auch die durch und durch positive Musik. „Superkalifragilistikexpialigetisch“ ist nur ein Stück aus einer ganzen Reihe an Ohrwürmern, die im Film gesungen und getanzt werden. Ob nun „A Spoon full of Sugar“ oder „Stay awake“, „Feed the Birds“ oder „Chim Chim Cheree“ oder „Let´s go fly a Kite“ – all diese Lieder tragen den Zuschauer und den Zuhörer mit sich hinweg, beinah wie ein Wirbelwind aus Sahnebaisers. Die Komponistenbrüder Richard M. und Robert B. Sherman haben da eine musikalische Großtat vollbracht. Denn die Musiknummern sind im wahrsten Sinne maßlos, einige scheinen kein Ende zu nehmen (etwa der Schornsteinfeger-Song „Schritt und Tritt“). Der Zuschauer mag da ganz hin- und hergerissen sein und sich denken: Time out! Ich brauche mal eine Pause von der guten Laune!
Deshalb vielleicht auch mal eine garstig-nüchterne Betrachtung: Tief unter der extradicken Zuckerschicht verbirgt sich – trotz aller Verzückung, die der Zuschauer erleben mag – hinter Mary Poppins wenig mehr als eine vertonte Nummernrevue. Die Handlung gerät ins Hintertreffen, die Figuren bleiben lediglich Skizze und Klischee, haben kaum die Möglichkeit, wirklich zum Leben zu erwachen. Insofern ist die große Stärke von Mary Poppins auch gleichzeitig ihre große Schwäche. Dabei transportiert der Film im Kern eine so einfache wie naive Moral: Es geht darum, dass sich die Familie Banks wieder versteht, genauer: die beiden (süß besetzten) Kinder und ihr biederer Herr Vater. Auf der einen Seite steht Mr. Banks, nomen est omen ein Bankangestellter und bestimmt von Disziplin und Ordnung. Auf der anderen eben die kindlichen Freigeister, denen etwas Anleitung vielleicht ganz gut täte.
Nette Ansätze tief unter der Zuckerschicht
Eigentlich eine ganz reizvolle Ausgangsbasis. Denn die Szenen mit Mr. Banks in seiner altehrwürdig-verstaubten Bank liefern ein paar wunderbar verdichtete Zeilen zu Gesellschaft und Hochfinanz. Da heißt es an einer Stelle erstaunlich ernst: „Solange Englands Banken bestehen, besteht England. Stürzen eines Tages Englands Banken, stürzt England.“ Beinahe prophetisch. Und auch die Szenen mit den Kindern und ihrer magischen Nanny transportieren bei genauerem Hinsehen ein paar interessante Ansätze. So singt Mary Poppins, während sie das Kinderzimmer per Fingerschnipp auf Vordermann bringt: „Wenn ein Löffelchen voll Zucker bittre Medizin versüßt, rutscht sie gleich noch mal so gut.“
Kleine emotionale Mängel
Am Ende mag der Zuschauer dann vielleicht sogar recht ratlos und irritiert sein. Ratlos darüber, wann denn Mary Poppins zwischen dem ganzen Gesinge und Getanze ihre kleinen Naseweise so liebgewonnen hat, dass ihr der Abschied schwer fällt. Und irritiert, wie denn nur die Kinder ihr Kindermädchen sofort vergessen können, sobald der Papa wieder nett zu ihnen ist.
Mary Poppins entspringt der Fantasie der britischen Autorin P.L. Travers. Der Roman, der 1934 erschien, trägt autobiografische Züge: Travers verarbeitet darin die Erinnerung an ihren eigenen Vater, der in einer Bank arbeitete und aufgrund des nüchternen Jobs stets seine eigenen Träume unterdrücken musste. Er wurde Alkoholiker und starb, als Travers sieben Jahre alt war. Die Autorin war dann auch alles andere als begeistert von der Disney-Verfilmung. Bereits während der Produktion kritisierte sie zahlreiche Änderungen gegenüber dem Buch. Sie hasste die Zeichentrick-Passagen und war auch nicht mit der Charakterisierung ihrer Hauptfigur zufrieden, die im Roman deutlich spröder auftritt. Schließlich lud Walt Disney die Autorin nicht einmal zur Uraufführung ein. Die Geschichte wird stark idealisiert in dem Disney-Film Saving Mr. Banks nacherzählt. Travers verdiente übrigens viel Geld mit der Poppins-Verfilmung, bereute ihre Entscheidung aber schwer und verhinderte Zeit ihres Lebens eine Fortsetzung (die dieser Tage ins Kino gekommen ist).
Zeitloser Charme
Aber wie gesagt: Das ist eher eine garstige Sicht auf den Film. Mary Poppins ist so bunt und gutelaunig, dass jegliche Kritik daran abprallt. Zumal bereits die Buchvorlage von P.L. Travers nicht mit einer durchgehenden Geschichte glänzt, sondern ebenfalls nur eine Abfolge von Episoden präsentiert.
Mary Poppins ist klassische Disney-Unterhaltung mit dem obligatorischen Maß an Kitsch. Dabei mag man sich heute vielleicht noch mehr als damals fragen, wie die zahlreichen visuellen Effekte mit den technischen Möglichkeiten des Jahres 1964 überhaupt realisiert werden konnten. Und man mag sich gleichzeitig an dem herzlichen Humor des Films erfreuen, der seinen Charme über die Jahrzehnte erhalten hat. Das macht einen Klassiker aus.
In Kürze: Der Disney-Film schlechthin. Soll heißen: reihenweise Schauwerte mit kunterbunten Bildern sowie Humtata und Trallala unter einer dicken Zuckerschicht. Insofern eine wunderbar unterhaltsame Reise in eine Fantasiewelt. Allerdings auch lediglich eine Nummernrevue, bei der die Charaktere auf der Strecke bleiben. Das gleicht Mary Poppins aber mit Humor und Charme aus.
Bewertung: 8 / 10
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