Gerade ist der Schacht auf Netflix veröffentlicht worden. Eine satirische Dystopie aus spanischen Landen. Die wäre für sich schon hübsch genug. In Zeiten von Corona erhält der Film aber eine gewisse Brisanz.

Hand aufs Herz, wir sind ja unter uns: Wer hat kürzlich Klopapier gehortet? Umgangssprachlich: gehamstert? Nein, ich war es natürlich nicht. Nein, ich auch nicht. Und ich auch nicht. Und ich habe nur ein bisschen mehr gekauft, weil man weiß ja nie. Macht doch jeder, oder? Das muss man doch, sonst ist man man selbst der Gelackmeierte! – Naja, wie man es dreht und wendet: Die Regale in den Supermärkten waren leer, irgendwer muss also gehamstert haben. Und mehr noch: Einige sahen die Hamsterei als ihr gutes Recht, schließlich gab es Streit und sogar Handgreiflichkeiten mit den Kassierern. Der Appell ans Gewissen, etwas für andere übrig zu lassen, schien plötzlich bedeutungslos im Angesicht des Corona-Virus. Haben andere halt nichts, ist doch nicht mein Problem, solange ich in meinen vier Wänden erst mal auf Monate hin ausharren und auf der Schüssel hocken kann!

Der Schacht und Toilettenpapier
Mehr ist immer besser: Der Film Der Schacht besitzt eine seltsame Aktualität in diesen Tagen. Menschen, die ohne Rücksicht auf andere konsumieren, gibt es fiktiv wie real. Im Film futtern sie anderen alles weg, im richtigen Leben hamstern sie Klopapier.

Der Schacht, eine spanische Produktion aus dem vergangenen Jahr, hat eigentlich eine sehr platte sozialkritische Botschaft. Zumindest hätten wir das wohl so in normalen Zeiten formuliert. Denn die Aussage kommt schon sehr mit dem Holzhammer. In einem vertikal angelegten Gefängnis fährt eine Plattform mit Essen von oben nach unten. Vorhersehbar, was passiert: Die Leute oben fressen alles weg ohne Rücksicht auf Verluste, den Leuten unten bleiben die Reste oder eben gar nichts. Würde sich jeder nur das nehmen, was er benötigt, wäre für jeden genug da. Sozialkritik für jeden verständlich. Eigentlich. Das Bemerkenswerte daran ist: Wir haben keine normalen Zeiten. Genau das, was im Film passiert, konnte und kann man derzeit ganz wunderbar bei jedem Gang in den Supermarkt beobachten, als hätte jemand ein soziologisches Experiment angelegt. Asoziale Hohlbirnen allerorten, und jeder ist sich selbst der nächste.

Dystopische Versuchsanordnung mit Subtext

Der Film kommt auf Netflix gerade zur richtigen Zeit – oder zur falschen, je nach Sichtweise. Man könnte ihn fast als Kommentar zur Corona-Krise verstehen, wäre er nicht schon früher produziert worden. Dabei ist die Geschichte im Kern auch nicht neu: Dystopische Versuchsanordnungen mit sozialem Subtext gab es in der jüngeren Vergangenheit etwa mit Snowpiercer oder High-Rise genug. Damit es richtig fies wird, bedienen sich die Macher noch ein wenig bei Cube und Saw. Der Schacht ist ein Konstrukt, das rational eigentlich nicht erklärbar ist. Aber dieses Konstrukt dient als Projektionsfläche für die ganz offensichtliche(n) Botschaft(en), die der Film hat.

Und das macht er ziemlich gut und straff erzählt. Der Zuschauer ist sofort mittendrin im Geschehen und nah bei der Hauptfigur, die anfangs noch verstört und abgestoßen ist von dem Treiben, sich aber in kürzester Zeit arrangiert. Nach 15 Minuten Spielzeit sind Anstand und Prinzipien über Bord, weil der Hunger überwiegt.

Der Schacht und Müll
Der Schacht und Müll – was ergibt das? Einen Müllschacht! – Autsch, ok, der war schlecht. Aber bezogen auf den Film: Abfall ist das Einzige, was einigen Menschen im Film noch zum Essen übrig bleibt.

Trägt dieses Gedankenexperiment über die gesamte Laufzeit, oder hat Der Schacht sein Pulver danach bereits verschossen? Es trägt. Indem der Protagonist auf verschiedenen Ebenen innerhalb seines Gefängnisses landet, gibt es reichlich Gelegenheiten, die Gegensätzlichkeiten des Lebens „oben“ und des Lebens „unten“ zu variieren und verschiedenste Szenarien durchzuspielen. Da ist im Grunde alles drin, was den modernen Alltag ausmacht: Klassendenken, das Streben nach einer besseren gesellschaftlichen Stellung, Flüchtlingskrisen, Alltagsmüdigkeit, Erste-Welt-Probleme und letztlich das Notwendige, um zu überleben. Solange es den Personen gut geht, also solange sie „oben“ sind, ist Raum für Frieden und Freundschaften, Aggressionen bleiben unter der Oberfläche. Aber kaum sind sie „unten“, ist das alles hinfällig, da geht es ums nackte Überleben. Auch wenn das Kannibalismus bedeutet.

Scheiß auf spontane Solidarität

Da Der Schacht doch reichlich abstrakt daherkommt, bietet er ebenso reichlich Interpretationsansätze. Die Verwaltung – also vielleicht die Regierung? – will mit den künstlich hergestellten Unterschieden zwischen den Ebenen im Schacht eine „spontane Solidarität“ herstellen und bewirkt doch eigentlich nur das Gegenteil. Insofern könnte jede Etage für ein Land oder einen Kontinent stehen – Erste Welt contra Dritte Welt. Interessant auch die Erkenntnis: Solange man an die Vernunft der Insassen appelliert, ändert sich nichts, jeder verfolgt nur seine eigene Agenda. Erst wenn man ihnen mit Gewalt droht – oder ganz konkret damit, ihnen auf den Kopf zu sch**ßen, wenn sie nicht spuren – dann gehorchen sie. Eine Figur sagt nicht umsonst im Film: „Erst kommt die Erziehung – überzeugen, anstatt sie zu besiegen. Und wenn sie nicht wollen? Dann wendet man Gewalt an, aber man muss erst den Dialog suchen.“

Die Kapitalismuskritik ist ein Interpretationsansatz. Doch gerade in der zweiten Hälfte erhält Der Schacht auch religiöse Dimensionen – wie sich das für einen Film aus Spanien gehört. Die Verwaltung kann für einen Gott stehen oder für die Natur, die alle ihre „Speisen“ kunstvoll herrichtet, nur damit jeder rücksichtslos das abgreift, was er kriegen kann. Versinnbildlicht ist das in Großaufnahmen von gierig greifenden Händen, die alles zerstören, was sie anfassen, nur um zu haben und zu raffen. Ironischerweise knien sich die Insassen dabei vor ihren Speisen hin, als wollten sie beten. Solche Einstellungen in Kombination mit einigen saftigen Gewaltspitzen und kannibalistischen Handlungen – ein Darren Aronofsky hätte in seinen „Bibelfilmen“ wie Noah oder auch Mother! seine wahre Freude daran gehabt.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Wie gesagt: Eigentlich werden die Botschaften hier mit dem Holzhammer garniert. Insofern liefe solch ein Film auch sehr schnell Gefahr, in die Lächerlichkeit abzurutschen, wenn neben dem Wollen nicht das Können stünde. Aber da gibt es nichts zu mäkeln. Die Darsteller sind absolut kompetent unterwegs und geben von Abscheu bis Wahnsinn alles. Und die Inszenierung ist sehr dicht und schafft von Anfang an die richtige bedrückende Atmosphäre. Bleibt nur festzuhalten: Aufgrund seines abstrakten, allegorischen Charakters wird Der Schacht vielleicht nicht jeden Zuschauer ansprechen. Und es ist auch kein Gute-Laune-Eskapismus-Kino. Aber die Tatsache, dass er ausgerechnet in diesen Tagen auf Netflix erschienen ist, verleiht ihm eine ungeheure Brisanz. Wie heißt es so schön: zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Der Schacht und Nudeln
Pasta e basta: Klopapier war kürzlich nicht das einzige Objekt der Begierde im Supermarkt. Nudeln wurden ebenso wahnsinnig gekauft. Wirft die Frage auf, wie jemand am Ende einer Quarantäne aussieht, wenn er sich nur von Pasta ernährt hat…

In Kürze: Der Schacht ist allegorisches Endzeit-Kino aus Spanien. Sehr gut gemacht und eigentlich mit platter Botschaft, die aber aufgrund ihrer Konstruktion einen großen Reiz entfaltet – und die gerade in diesen Tagen als beißender Kommentar auf das gesellschaftliche Miteinander verstanden werden kann.
Bewertung: 8 / 10

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