Buh! Bäh! Schlecht! Mies! – Das waren sinngemäß die Reaktionen auf den diesjährigen Robin Hood. Ein Grund für die Antipathie der Filmfans dürfte so mancher Anachronismus im Film gewesen sein. Und was das angeht, ist Robin Hood 2019 gar nicht so alleine…
Robin Hood trägt Belstaff. Das sieht jedenfalls so aus. Nein, der Mann ist nicht in grober Baumwolle unterwegs, auch nicht in Lederfetzen. Das Jäckchen, das er da anhat, sitzt wie maßgeschneidert, schmal geschnitten, funktional und mit sauber gearbeiteten Nähten. Der Mann hat Stil und schätzt Qualität! Wenn dieser Robin also von den Reichen stiehlt, um den Armen zu geben, dann zweigt er bestimmt ein paar Goldmünzen für einen fähigen Schneider ab. An seiner Seite: Maid Marian, perfekt geschminkt, ob bei Sonne, Regen oder Volksaufstand, das Haar frisiert, das Kleid hauteng und mit tiefem Ausschnitt. Die Dame, so scheint es, steht morgens mindestens so lange im Burgbad, um sich hübsch zu machen, wie sie später in der Suppenküche arbeitet, um der armen Bevölkerung zu helfen.
„Bullshit!“ – Sorry für den Kraftausdruck. Aber sinngemäß war das die spontane Reaktion des gemeinen Filmfans auf die ersten Trailer-Bilder aus dem diesjährigen Robin Hood. Gemeint ist der Film mit Taron Egerton in der Hauptrolle, mit Jamie Foxx in der Nebenrolle und mit U2-Bonos Töchterchen Eve Hewson in der Make-up-Rolle. Ach, und mit Ben Mendelsohn als böser Sheriff von Nottingham, der optisch mal eben von Star Wars: Rogue One rübergemacht hat. „Bullshit!“ – Woran entzündete sich nun der Zorn des Zuschauers, bevor er den Film überhaupt gesehen hatte? Ganz einfach: Der erste Eindruck lautet „Robin Hood trägt Belstaff“. Und das ist lächerlich, denn Belstaff gibt es zwar schon seit 1924, aber eben nicht seit dem 13. Jahrhundert, als die ersten Balladen rund um den charmanten Gesetzesbrecher mit der sozialen Ader die Runde machten.
Black Hood Down
Anachronismus – wir haben es also mit einem hübschen Fremdwort zu tun. Ein Anachronismus beschreibt eine falsche zeitliche Einordnung bzw. Zusammenführung, sei es von Personen oder Dingen, Ereignissen oder schlichten Ideen. Und die neueste Robin Hood-Verfilmung ist voller Anachronismen. Damit sind hier keine unabsichtlichen Filmfehler gemeint – Taron Egerton trägt nicht aus Versehen beim Endkampf gegen den Sheriff eine Armbanduhr. Der Film setzt vielmehr gezielt auf bekannte Bilder aus der Neuzeit: Der Kreuzzug in Arabien erinnert an Impressionen von amerikanischen Soldaten im Irak oder auch an Black Hawk Down. Nottingham mit seinen Hochöfen und Metallfabriken hat die Industrialisierung ganz offensichtlich schon 500 Jahre vor dem Rest der Welt entdeckt. Und am Ende läuft die Occupy-Bewegung durch die Straßen und rebelliert gegen den Sheriff. Und und und…
Das Urteil über Robin Hood und seine Anachronismen fiel vernichtend aus. Der Filmfan kam, sah und meckerte – und behielt Recht: Die Neuauflage des bekannten Stoffs ging an den Kinokassen gnadenlos unter. Nicht wenige Zuschauer hatten ihre Probleme mit dem – wohlgemerkt: ernst vorgetragenen – modernen Anstrich. Damit erinnerte das Schicksal von Robin Hood an das Schicksal eines anderen englischen Volkshelden knapp zwei Jahre zuvor: Da kam King Arthur in die Kinos. Mit der Optik einer High Fantasy à la Herr der Ringe. Aber auch mit der Handschrift von Regisseur Guy Ritchie. Und das bedeutet: Ritchie bereitete die bekannte Geschichte um König Artus wie eine Londoner Gangster-Story auf. Überflüssig zu erwähnen, dass auch Charlie Hunnam als angehendes feudales Staatsoberhaupt in einer modernen Lederkluft durchs Bild lief. Das alles war mächtig cool, traf aber ebenfalls auf wenig Gegenliebe beim Zuschauer.
Mittelalter light
Dabei muss man sich eigentlich bewusst machen: Wenn wir Filme sehen, also Filme, die im Mittelalter spielen, dann nehmen wir eigentlich am laufenden Band Anachronismen in Kauf, ohne uns größere Gedanken darüber zu machen. Da muss man gar nicht mal beim Make-up der weiblichen Darstellerinnen anfangen. Es geht um viel alltäglichere Dinge: Der Protagonist, egal ob König oder Vogelfreier, hat immer halbwegs gewaschenes Haar, halbwegs weiße Zähne und einen halbwegs ansehnlichen Körperbau, der quasi nach Ernährungsplan und Personal Trainer schreit. Da wären wir bei der Suspension of Disbelief. Soll heißen: In einem gewissen Rahmen nehmen wir das Störgefühl, dass etwas nicht stimmt an dem, was wir da auf der Leinwand sehen, nur allzu gerne hin für unser Vergnügen. Der holde Prinz mit dem Zahnpasta-Lächeln – ist ok. Der Robin Hood mit dem Schnellfeuer-Bogen – nö, der ist doof.
Ach, da steckt eigentlich so viel Gutes, nein, Interessantes drin. Der Robin Hood anno 2019 gibt sich wirklich große Mühe, seine altenglische Sage ins Hier und Jetzt zu transferieren. Mein Highlight: ein großes Festbankett zur Mitte des Films, bei dem sich das Kostümdesign so richtig austoben durfte. Da sehen alle Party-Teilnehmer aus, als hätten sie mal eben aus den 80ern und gleichzeitig aus Terry Gilliams‘ Brazil rübergemacht. Medieval Punk quasi. Aber auch ansonsten gibt es nette Ansätze: Optisch wird Robin Hood zum modernen Comichelden à la Batman (oder eben Robin, höhö). Inhaltlich wandelt der Sheriff von Nottingham auf den Faden heutiger Populisten, um einen Krieg am Laufen zu halten. Das Ding ist nur: Irgendein wahnsinniger Produzent hat genug Kohle in das Projekt gesteckt, dass das alles ein großartiger Genre-Bastard hätte werden können. Doch dramaturgisch beschränkt sich der Film auf eine redundante und damit ermüdende Abfolge von Robins Raubzügen und des Sheriffs nächster Hasstirade. In einem Satz: Der neue Robin sieht vielleicht knackig aus, aber er ist ziemlich breiig geschrieben, die Anachronismen sind da das kleinste Problem. – 5 / 10
Das finstere Klischee
Es ist für Filmemacher aber auch ein bisschen schwierig: Das Mittelalter reichte grob vom Jahr 500 bis zum Jahr 1500. Also quasi der kurze historische Wimpernschlag, der von Antike bis Neuzeit dauerte. Wie will man denn dieses läppische Jahrtausend einigermaßen in 100 Minuten Film packen, ohne dass zwangsläufig ein paar Jahrhunderte auf der Strecke bleiben? Mittelalter ist halt Mittelalter! Und darunter verstehen wir: schlammige Wege, dreckige Leute, Fachwerkhütten, Aberglaube und allgemein ein menschlicher Entwicklungsstand knapp über dem eines Primaten. Ok. Das wäre so, als würde man im Jahr 2500 einen Film über den Zweiten Weltkrieg drehen, in denen Befehle per Klapphandy gegeben werden und Soldaten in besseren Karnevalskostümen herumlaufen. Aber wenn’s denn dem Erzählen dient…
Sowieso – das nur als Einschub: Unser Bild von der Epoche ist eh arg verfälscht. Denken wir ans Mittelalter, denken wir ans „finstere Mittelalter“. Die falsche Beschreibung kam bereits in der Renaissance auf, weil man sich damals vom gerade Gewesenen absetzen wollte. Jede neue Zeit fühlt sich halt ein bisschen schlauer als die alte, was natürlich auch nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Und dieses Bild hat sich bis heute gehalten. Der Name der Rose, also der Film mit Sean Connery, wird immer als löbliches Beispiel für die Darstellung (spät-)mittelalterlichen Lebens genannt. Denn Regisseur Jean-Jaques Annaud war nicht nur an der Story von Romanautor Umberto Eco interessiert, sondern an der Zeit der Handlung selbst.
Aber wenn man es genau nimmt: Der Film ist auch ziemlich finster. Da schreibt man übrigens das Jahr 1327. Robin Hood ist dezent älter und die Sage von König Artus liegt von dort aus noch mal rund 800 Jahre weiter in der Vergangenheit.
Dixie-Klos in Sherwood Forest
Robin Hood scheint übrigens sehr anfällig für Anachronismen. Das gilt nicht nur für die Version von 2019, sondern ebenso für die Version von 1991 mit Kevin Costner. Morgan Freeman spielt da den Mauren Azeem, der nicht nur aufgeklärter ist als seine europäischen Freunde und Feinde. Nein, er scheint auch durch Raum und Zeit gereist zu sein. Immerhin kennt er Schießpulver (wer hat’s erfunden – die Chinesen), Fernglas (made in Holland, est. 1608) und sogar Kaiserschnitt (den gab’s schon in der Antike). Es ist klar, welche Botschaft die Filmemacher mit diesem Charakter senden wollten. Aber zeitgeschichtlich ist das genauso zweifelhaft wie die Schmelzöfen und Eisenbahngleise in der aktuellen Hood-Variante. Mel Brooks baute die Anachronismen aus dem Costner-Film übrigens noch etwas aus: In seinem Spoof Helden in Strumpfhosen gibt es Sneaker, Sonnenbrillen, Dixie-Klos, Presslufthammer, Umzugsunternehmen – und natürlich das Playboy-Magazin, sogar in Braille.
Anachronismus also… Ein Anachronismus wird auch in der Rhetorik genutzt und dort gerne als Form des Archaismus, also indem die typischen Sprachstile zweier unterschiedlicher Zeiten verwendet werden. Damit erzeugt man Reibung, das lässt die Leute aufhorchen: „Belieben Frau Gräfin anzunehmen, dass heute ein rechtes Scheißwetter herrscht?“ Und ein Film hat quasi die Hauptaufgabe, aufhorchen zu lassen. Nicht umsonst sagte Samuel Goldwyn einmal, ein Film müsse mit einem Erdbeben anfangen und sich dann langsam steigern. Der Anachronismus ist das ultimative Erdbeben. Man nehme zum Beispiel: den Wilden Westen und wahlweise zwei Maschinenpistolen wie am Anfang von Time Cop oder ein Motorrad wie in Die Abenteuer des Lyle Swann.
Aber ok, dabei handelt es sich nicht um historische Stoffe, sondern um Zeitreise-Geschichten. Da bietet sich so etwas ja förmlich an. Großes wie ein DeLorean im Jahr 1955 oder Kleines wie der schlichte Ausdruck „stark“. Heute würde man wohl „übelst krass“ sagen, was wiederum nicht ins Jahr 1985 passen würde.
Laser Knights from Outer Space
Es gibt übrigens noch ein Genre, in dem wir Anachronismen gar nicht als solche wahrnehmen. Denken wir einfach an holde Rittersleute, die für das Gute kämpfen und für den Frieden. Von edler Gesinnung. Allerdings nicht mit Stahlklingen in den Händen, sondern mit Laserschwertern. Und nicht hoch zu Ross, sondern in kleinen, wendigen Raumschiffen. Star Wars ist sicherlich das berühmteste Beispiel für archaische Motive, die in den hochtechnisierten Weltraum verfrachtet werden. Bei genauerer Betrachtung fällt übrigens auf: Im Weltraum gibt’s selten moderne Demokratien, da greifen die Autoren viel lieber auf altbekannte feudalistische Herrschaftssysteme zurück, wie sie im Mittelalter herrschten. Flash Gordon und Buck Rogers lassen grüßen.
Erinnert sich noch jemand an Snatch? Oder Bube, Dame, König, grAS? Na, bitte, dann weiß man doch, was einen beim Thema Guy Ritchie erwartet: Jump Cuts, Cross Cuts, Match Cuts, Fast Cuts und massenweise andere zügige und stylische Schnittarten und Übergänge von Szene zu Szene, von Einstellung zu Einstellung. Das hat er bislang bei allen seinen Filmen gemacht, selbst bei den allseits geschätzten Sherlock Holmes-Filmen und folgerichtig bei King Arthur. Die wahre Kunst dieses neuen Beitrags zur Artus-Legende ist dann auch die handwerkliche: Ritchie tut hier nun wirklich alles, damit die Filmhandlung nicht linear, sondern zersägt, parallel, in Flashback und Vorausschauen abläuft, um bloß nicht so etwas wie Konvention und Langeweile zuzulassen. Das macht er streckenweise so gut, dass der Zuschauer kaum noch folgen kann. Völlig egal, denn King Arthur ist Pop! Szenen enden nicht in Höhepunkten, sondern in Pointen. Und der Film ist kein Epos, sondern eine Gangster-Story. Hut ab, Mr. Ritchie, Sie haben dem alten Kerl ordentlich in den Hintern getreten. – 8 / 10
Artus vs. Locke
Das Schöne am Anachronismus ist eigentlich: Im Spiegel längst vergangener Zeiten sagt ein Anachronismus mehr über das Heute aus als ein Bild aus der heutigen Zeit selbst. Nehmen wir Monty Python und die Ritter der Kokosnuss. Da trifft König Artus (sic!) auf ein dreckiges (sic!) Bauernpaar und gibt sich als ihr Herrscher zu erkennen. Worauf seine Gegenüber fragen, wer ihn denn zum König gewählt habe. Nein, nein, er sei nicht gewählt worden, entgegnet er, er sei von der Herrin im See und durch göttliche Vorsehung zum König ernannt geworden. Trockener Kommentar der Bauern: „Fremde Weiber, die in irgendwelchen Tümpeln hocken, sind keine Basis für irgendein Regierungssystem. Die oberste Exekutivmacht leitet sich her von einem Mandat der arbeitenden Massen und nicht von einer verlogenen Wasserzeremonie!“
So lernt König Artus also seine Staatstheorie nach John Locke und Thomas Hobbes – und die Pythons landen zielsicher einen Lacher. Locke und Hobbes lebten im 17. Jahrhundert. Wie also sollen dumme mittelalterliche Bauern aus der Artussage zu aufgeklärtem Gedankengut finden? Völlig egal, der Zuschauer denkt sich nur: Mann, der Artus ist ein Depp, wir sind heute zum Glück schon ein bisschen weiter. Wie viel weiter wir sind, zeigt der Film Ritter aus Leidenschaft, der im 14. Jahrhundert spielt: Da geht es nämlich nur vordergründig ums Lanzenstechen, sondern vielmehr um eine Underdog-kämpft-sich-nach-oben-Story. Selbstredend, dass Heath Ledger als Mittelalter-Proll mit Selbstvertrauen und Herz alle Klassenschranken überwindet, das Mädel bekommt und zum echten Ritter wird. Was heute geht oder zumindest gehen sollte, das ging auch damals…
Ritter, Held, Rockstar
Auf den Tribünen stehen derweil einige irgendwie mittelalterlich gekleideten Typen. Und die rocken zum Tjosten, also zum ritterlichen Zweikampf, voll ab – während „We will rock you“ von Queen läuft. Das macht Heath Ledger nicht nur zum Helden, sondern zum Rockstar. Und seine Zuschauer zur archaischen Variante heutiger Fußballfans. Regisseur Brian Helgeland holt damit das altertümliche Treiben ins Hier und Jetzt. Und bietet sogar eine dritte Ebene: Denn Paul Bettany spielt Geoffrey Chaucer, jawohl, den Geoffrey Chaucer, also den realen britischen Schriftsteller, der nicht nur die Canterbury Tales schrieb, sondern sich auch schon von der Legende um Robin Hood inspirieren ließ. Na, jedenfalls kommt Chaucer in Ritter aus Leidenschaft eine recht moderne Rolle zu: Er wird praktisch Ledgers redegewandter Agent und Promoter. Ein Anachronismus, der mächtig Spaß macht im Film.
Ach, da wir schon beim Überwinden von Klassen- und Standesschranken sind, eben zurück zu Robin Hood. Dieses mal nicht zu dem von 2019 und auch nicht zu dem von 1991, sondern zu dem von 2010. Regie: Ridley Scott. Russell Crowe spielt da den Robin Hood, vormals aber nicht Robin von Loxley, sondern Robin Longstride. Er ist kein verarmter Adliger, sondern ein Bogenschützen-Karl-Arsch-im-Dienst, der es ähnlich macht wie Heath Ledger in Ritter aus Leidenschaft: Er nimmt einem toten Adligen die Rüstung ab und schlüpft in eine neue Rolle. Lustigerweise hat Brian Helgeland auch hier das Drehbuch geschrieben.
Was nicht in der Zeitung steht…
Dieses Ideen-Recycling sei ihm erlaubt, denn im Kern ist das eine schlaue, sogar historisch schlüssige Idee: In einer Zeit, in der es keine Medien und keine Telekommunikation gibt und der arme Bauer auf dem Land nicht mal seinen eigenen König zu Gesicht bekommt, wer will da mit Gewissheit sagen, ob ein hergelaufener Tunichtgut nicht vielleicht doch ein Adliger von Sonstwo ist?
Nun ja, der 2010er Robin Hood gipfelt jedenfalls nicht nur in dem Anachronismus, dass sich Helgeland in seinem Skript diverse historische Daten so hinbiegt, wie er sie gerade benötigt – Prinz John will seinem Bruder Richard nachfolgen, König Philipp will nach England einmarschieren, die englischen Barone haben die Nase voll von ihrem Herrscher… Nein, der Film endet damit, dass Robin Longstride / Loxley / Hood eine nicht ganz unwesentliche Rolle in der Magna Charta spielt, die dafür im Film ein paar Jährchen, nämlich derer 15, eher stattfindet und den Obermotz auf dem Thron erstmals dazu zwingt, einen Teil seiner Macht per Vertrag an andere abzugeben. Ok, an den Adel, aber immerhin schwingen da schon ein paar modernere Vibes mit. Da denkt doch niemand mehr ernsthaft an Errol Flynn in grünen Leggins und mit Fastnachts-Hut!
Eine ganze Menge Theater
Historische Stoffe an moderne Seh- und Hörgewohnheiten anzupassen, darauf sind nicht erst Filmregisseure gekommen. Ihre Kollegen aus Theater und Oper arbeiten schon ein ganzes Weilchen mit dem Zeit-Kniff. Heute vor allem, um Klassiker radikal zu modernisieren, etwa wenn Hamlet in moderner Kampfmontur auftritt oder am Laptop sitzt, Goethes Faust neue moderne Texte in den Mund gelegt bekommt oder Becketts Warten auf Godot völlig ohne Requisiten und nur mit einem Scheinwerfer auskommen muss. Siegfried mit Pumpgun und Wotan mit Aktenkoffer – derlei Anachronismus gehört nun wirklich zum Standardinventar nicht nur der großen Bühnen, dort wird inzwischen eher darüber gegähnt, sondern auch jedes kleinen Stadttheaters. Da wird dem zeitgenössischen Zuschauer der moderne Bezug entweder förmlich aufgedrängt oder besonders schwer gemacht.
Besonders schwer scheint es da die alte Dame Oper zu haben. Das klassische Repertoire ist dem Publikum wohlbekannt, die zeitgenössische Oper wiederum verstört eher, als dass sie begeistert. Wie also verpasst man ihr eine Frischzellenkur? Genau, mit dem Anachronismus! Oder zumindest mit… nennen wir es einfach mal „Bearbeitungen“. Einer der bekanntesten Vertreter dürfte Hans Neuenfels sein, der Groß- und Altmeister des Regietheaters. So lief die Aida (die Oper, nicht das Schiff!) schon als Putzfrau über die Bühne, der Figaro schaute gerne fern und Don Giovanni schmiss Viagra. Die Beispiele sind zahllos. Der Anachronismus zeigt dort im besten Fall, dass ein Werk wirklich „zeitlos“ ist und auch heute noch Relevanz besitzt – wenn der Regisseur es nicht übertreibt.
Eine Frage, die sich da am Rande stellt, ist: Warum nimmt das Publikum im Theater derlei Spielereien so wohlwollend hin, während sich die Zuschauer im Kinosaal zuweilen damit sehr schwer tun? Sollte nicht das Kinopublikum etwas innovativer und offener sein, immerhin nutzt es das neuere Medium? Naja, vielleicht liegt es am per se höheren Abstraktionsgrad im Theater: Wo nur eine Bühne zur Verfügung steht, um die Welt abzubilden, macht man auch mehr Zugeständnisse. Im Kino dagegen hat es „fotorealistisch“ zu sein. In gewisser Weise wieder eine Suspension of Disbelief.
Kunterbunt durch die Zeiten
Filmmusicals besitzen dagegen seit jeher eine gewisse Narrenfreiheit im Umgang mit der Realität. Da verschwimmen gerne mal die Erzählebenen – zuletzt sehr eindrucksvoll zu beobachten an La La Land. Und so darf das Genre auch gerne mit zeitlichen Versatzstücken arbeiten. Besonders schön macht das noch immer der australische Regisseur Baz Luhrmann vor: Er hat Shakespeares Romeo und Julia in die heutige Zeit geholt (s. Kasten) und auch das Pariser Moulin Rouge etwas modernisiert. Wie das? Der Film spielt im Jahr 1900. Ein Umstand, der Ewan McGregor nicht daran hindert, das Lied „Your Song“ von Elton John anzustimmen, also einen Song aus dem Jahr 1970. Dafür wurde der Film übrigens gefeiert.
Kritisiert wurde dagegen Luhrmanns Verfilmung von Der große Gatsby nach Francis Scott Fitzgerald. Dessen Geschichte spielt 1922, aber bei den Partys, die da gefeiert werden, hört man modernen Rap von armen Leuten, die sich keinen ganzen Namen leisten können: Jay Z, Q-Tip oder Fergie. Dort wirkte der musikalische Anachronismus auf nicht wenige Zuschauer unpassend. Naja, bei der Musik kein Wunder…
Sherlock Holmes und der Steam Punk
Ach, da gäbe es noch so vieles. Etwa dass die Neuinterpretation von Sherlock Holmes mit Benedict Cumberbatch ein doppelter Anachronismus ist – indem sie den Geschichten von Arthur Conan Doyle und der 80er Jahre-Serie mit Jeremy Brett gleichermaßen Tribut zollt. Oder dass das Genre des Steam Punk eine ganz eigene Disziplin des Anachronismus darstellt und beinahe schon salonfähig geworden ist – siehe Wild Wild West mit Will Smith genauso wie Mortal Engines von Peter Jackson, Sucker Punch von Zack Snyder oder selbst die Sherlock Holmes-Filme von Guy Ritchie (die ganz streng genommen zwar kein Steam Punk sind, aber doch ganz steamige Schwingungen versprühen). Aber vielleicht wurde auch bereits deutlich: Das Spiel mit der Zeit ist recht zeitraubend.
Deshalb sei dem Zuschauer, der beim aktuellen Robin Hood ausspuckt oder beim aktuellen King Arthur abwinkt, einfach zugerufen: „Stell dich nicht so an!“ Doch, nur so ein Gedanke, vielleicht liegt die Antipathie des Zuschauers auch nicht allein am Anachronismus – vielleicht kann es auch schlicht sein, dass der Film an sich nicht gelungen ist…
William Shakespeare lebte von 1564 bis 1616. Damit fiel seine Lebenszeit in eine ganz interessante Epoche für England, nämlich in die Frühe Neuzeit, die vom Ende des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts reichte und eine Menge Umbrüche für das Land brachte: Die englische Kirche wurde unabhängig, die englische Wirtschaft profitierte von der Entwicklung hin zu einer Handels- und Kolonialmacht. Königin Elisabeth I. läutete das „Goldene Zeitalter“ ein, ihr Nachfolger König Jakob I. initiierte die King James-Bible und äußerte sich gerne zu religiösen und politischen Themen. Mit anderen Worten: Die Stücke Shakespeares entstanden unter dem Eindruck großer Umwälzungen.
Da liegt es nur nahe, dass auch die Stücke selbst sowie ihr Schöpfer gerne für Neuinterpretationen und kleine erzählerische Spielereien hergenommen werden. Auf den Film bezogen bedeutet das: Hamlet kam nicht nur 1997 in einer sehr werkgetreuen Vier-Stunden-Version von Kenneth Branagh in die Kinos, sondern drei Jahre später auch als zeitgenössische Neuinterpretation, beheimatet in New York. Da geht es nicht mehr um Gerangel im dänischen Herrscherhaus, sondern im Konzern der Denmark Corporation. Aber Ethan Hawke und Kyle MacLachlan sprechen wie im Original in Shakespeares Versen.
Zeitlos wie die Liebe
Noch einen Tacken bunter trieb es Musical-Regisseur Baz Luhrmann mit William Shakespeares Romeo + Juliet. Der wurde zwar in den 1990ern mit der Mode der 1990er und der Popmusik der 1990er, aber mit der Sprache der 1590er gedreht. Wie hieß es doch im Trailer? „Für jede Generation ist eine klassische Geschichte so zeitlos wie die Liebe selbst.“
Apropos Liebe: Shakespeare in Love aus dem Jahr 1998 macht sich wiederum einen Spaß daraus, Episoden aus Shakespeares Leben in den Kontext seiner Stücke wie Macbeth (Erstaufführung 1611) zu setzen und einen doppelten Anachronismus zu produzieren: nämlich die Gleichsetzung von Shakespeares Lebenszeit zur Zeit in seinen Stücken und den Film selbst als Parabel auf den heutigen Film- und Kulturbetrieb.
Rache für vier Stunden Hamlet
Auch im (britischen) Fernsehen geht man nicht gerade zimperlich mit dem Verseschmied um. So trifft Rowan Atkinson in Blackadder Back and Forth aus dem Jahr 1999 mit Hilfe einer Zeitmaschine nicht nur auf Robin Hood, sondern auch auf Shakespeare – und schlägt ihn zusammen, quasi als Rache für all die Schulkinder, die 400 Jahre lang mit dessen Stücken gequält wurden, äh, werden (und für Branaghs genannte Vier-Stunden-Version von Hamlet). Der zeitreisende Doctor Who nimmt natürlich auch gerne Bezug auf Shakespeare: Mal hat er dem Meister mit Hamlets „Sein oder Nichtsein“-Monolog geholfen (vierter Doktor), mal wohnt er der ersten und einzigen Aufführung von Love’s Labors Won bei.
Die Serie Red Dwarf macht William kurzerhand zur Wilma. Und die Twilight Zone, also die alte Serie von 1959, bringt Shakespeare in die Gegenwart, wo er einen Fernsehfilm schreiben soll, aber an der Einmischung von Sender und Stars verzweifelt (The Bard mit Burt Reynolds). Zuletzt sahen wir den guten Will übrigens in Gesellschaft von Engel und Dämon: In der Verfilmung von Terry Pratchetts und Neil Gaimans Buch Good Omens wohnen Aziraphael und Crowley einer nur schlecht besuchten Vorstellung von Hamlet bei.